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20 Jahre Srebrenica. Zur Bedeutung des Erinnerns.

Kaan Orhon
07.07.2015

Bismillah

20 Jahre Srebrenica. Zur Bedeutung des Erinnerns.

Tausende von Menschen werden ermordet, ihres Glaubens, ihrer Identität wegen. Ermordet und in Massengräbern verscharrt, ohne Namen, jeder menschlichen Würde beraubt. Frauen und Mädchen werden vergewaltigt, sadistisch sexuell missbraucht und erniedrigt, Wochen und Monate lang, werden „verkauft“ oder „verschenkt“. Gotteshäuser werden gesprengt, abgerissen, angezündet, Friedhöfe und Gräber werden geschändet, selbst weltliche Kulturgüter und Baudenkmäler werden zerstört in dem fanatischen Bestreben eine Kultur, die materielle Geschichte und Identität eines Volkes zu zerstören. Vor diesem Grauen flüchten unzählige Menschen, oft mit nichts weiter als den Kleidern, die sie am Leibe tragen, zu Fuß über weite Strecken durch ein Kriegsgebiet.

Es erinnert an die Berichte und Bilder die in der jüngsten Vergangenheit aus dem Irak und Syrien, an die Verbrechen des sogenannten „Islamischen Staates“. Doch es passt leider auf viele, auf viel zu viele Regionen und Zeiten. So auch auf Bosnien-Herzegowina vor 20 Jahren, als ein christlicher bzw. ein kommunistisch-areligiöser ‚IS’ eine Flugstunde von München und Wien entfernt die Vernichtung der bosnischen Muslime unternahm.

Zwischen 1992 und 1995 wurden in Bosnien zehntausende von Zivilisten ermordet, in Konzentrations- und Vergewaltigungslagern interniert, gefoltert, ausgehungert, Millionen wurden vertrieben oder wie es seit jener Zeit heißt „ethnisch gesäubert“. Tausende von Moscheen, Medresen, Gräbern und anderen religiösen Gebäuden wurden zerstört.

Das bekannteste Verbrechen aus jenen Jahren ist das Massaker von Srebrenica, bei dem im Juli 1995, schon gegen Ende des bosnischen Unabhängigkeitskrieges und des ihn begleitenden Völkermordes an den Bosniaken, 8.372 Menschen - in der großen Mehrheit, aber nicht nur, Männer und Jungen - in einer vermeintliche  „Schutzzone“ der Vereinten Nationen selektiert, ermordet und in Massengräbern vergraben wurden. Srebrenica ist ein Name, ein  Ort und ein Verbrechen, welches stellvertretend für viele andere steht, deren Namen und deren Opfern auch zu gedenken gebührte:

Omarska, Keraterm, Trnopolje, Manjaca, Luka Brcko und andere, die Namen der Konzentrationslager. Goražde, Tuzla, Žepa und Bihac, die sogenannten Schutzzonen, die wenig zu schützen vermochten. Prijedor oder Višegrad, Regionen und Ortschaften, in denen andere grausame Massaker und Verbrechen verübt wurden. Und schließlich Sarajevo selbst, wo in Jahren von Belagerung und Beschuss über 11.000 Menschen den Tod fanden.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die keiner, der sie nicht hat erdulden müssen, in ihrem ganzen Ausmaß erfassen kann, die nicht zu vergessen aber unser Glaube und unsere Menschlichkeit uns gerade deshalb gebieten.

Aber schreckliche Verbrechen hat es seit dieser Zeit viele gegeben und gibt es gerade, wie bereits gesagt. Dennoch haben wir, der Rat muslimischer Studierender, uns vor einigen Jahren, auf einer Bildungsreise in Berlin, entschieden, ein gemeinsames Gedenken unserer Hochschulgruppen an Srebrenica und den bosnischen Völkermord in die Reihe unserer Veranstaltungen und Projekte aufzunehmen.

Warum? Die Frage hat eine Berechtigung, vor allem vor dem Hintergrund, dass es ein Grundsatz unserer Arbeit ist, dass wir als Verein uns nicht zu aktuellen außenpolitischen Ereignissen positionieren. Was also ist die Bedeutung dieser Ereignisse, die nun schon fast eine Generation zurückliegen. Wer uns, wer die Arbeit des Rates auch nur oberflächlich kennt, der weiß, dass es uns nicht um Aufrechnen oder Relativieren geht.
Nicht gegenüber den Verbrechen, die von selbsternannten Gotteskriegern im Namen des Islam rund um die Welt verübt werden.
Nicht gegenüber vergangenem oder gegenwärtigem Leid anderer Muslime, gegenüber Syrien, Burma, Gaza oder Somalia.
Und auch nicht gegenüber Leid und Unrecht, dass Menschen anderen Glaubens oder anderer ethnischer Zugehörigkeit während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien zugefügt wurde.

Es geht zum Einen um die enge Verbindung, die unser Land und unsere Gesellschaft mit Bosnien und seinen Menschen und damit mit den dort an ihnen verübten Verbrechen hat. Und mehr und noch wichtiger: es geht um die Lektionen, die Srebrenica uns lehrt oder lehren kann, wenn wir bereit sind, zu verstehen.

Was vor 20 Jahren geschah, wirft seine Schatten auf so vieles, was wir gerade jeden Tag diskutieren.

Bis zu 350.000 Menschen flohen aus Bosnien nach Deutschland. Etwa 75.000 nach Nordrhein-Westfalen, 70.000 nach Bayern, 60.000 nach Baden-Württemberg… wie erbärmlich ist eingedenk dessen die derzeitige Hilfe für Flüchtlinge aus Syrien, wie unsagbar menschenverachtend das Geschacher um Flüchtlinge aus Lampedusa. Viele der bosnischen Moscheen, Gemeinden und Vereine, die heute in Deutschland bestehen, gehen auf diese Zeit zurück. Sie, die Menschen aus Bosnien, haben uns als muslimische Gemeinschaft und unser Land als Ganzes bereichert.

Und wir tragen als Muslime und als Bürger dieses Landes Verantwortung. Als Muslime verbindet uns unser Glaube mit ihnen, wie mit all unseren Glaubensgeschwistern, wie uns die Quellen unserer Religion lehren.

Der Gesandte Allahs (Segen und Frieden auf ihm) sagte: „Gewöhnlich findest du die Gläubigen in ihrer Barmherzigkeit und ihrer Zuneigung und ihrem Mitleid zueinander wie einen Körper. Wenn ein Teil davon leidet, reagiert der ganze Körper mit Schlaflosigkeit und Fieber. (Buchari)

Dazu obliegt uns als deutschen Muslimen oder Muslimen in Deutschland eine weitere Verantwortung, denn es war Deutschland, welches selbst erst vor kurzem die eigene 40-jährige verbrecherische Teilung überwunden hatte, dass das Abkommen von Dayton 1995 mit trug; jenes Abkommen, dass zwar den Krieg formell beendete, aber auch das Unrecht des Genozids festschrieb. Dieses Unrecht an Bosnien-Herzegowina und den Bosniern dauert bis heute an und ist auch eine deutsche Schuld, die auf uns genauso wie auf anderen lastet.

Srebrenica ist kein rein historisches und außenpolitisches Ereignis, Srebrenica und seine Folgen sind deutsche Gegenwart und deutsche Verantwortung.
Gedenken an Srebrenica ist kein rituelles Erinnern und Betrauern sondern Aufforderung zum Handeln.

Ebenso betrifft es unsere Debatten um Identität und Zugehörigkeit.

Nicht Aussagen von verschiedenen Politikern, nicht der EU-Beitritt der Türkei – Srebrenica und der bosnische Völkermord stellen die Frage, ob der Islam zu Europa und damit zu Deutschland gehört.   

 Wer – ob Muslim oder Nichtmuslim – Begriffe wie europäischer Islam oder „Euro-Islam“ in den Mund nimmt, muss dies im Wissen tun, dass es diesen in Bosnien, neben vielen anderen Regionen in Europa, gab und gibt. Nicht als ein modernistisches Konstrukt, sondern als lebendige, fast 600-jährige religiöse Tradition und europäische muslimische Kultur.

Es war der europäische Islam, dessen vorsätzliche und organisierte Ausrottung im Krieg betrieben wurde. Nicht irgendein „fremder“ asiatischer, afrikanischer, ‚orientalischer’ Islam.
Es waren Europäer muslimischen Glaubens, die in ihrem eigenen Land, in ihren eigenen Städten und Dörfern, vor ihren eigenen Häusern ermordet wurden; die aus ihrer Heimat durch physische Vernichtung beseitigt, gewaltsam vertrieben und durch massenweise Vergewaltigung und erzwungene Schwangerschaft „herausgezüchtet“ werden sollten. Keine „Schein-Asylanten“ oder „Wohlstandsflüchtlinge“ wie PEGIDA, PI-News und ihresgleichen heute die vornehmlich muslimischen Menschen betiteln, die auf der Flucht vor Krieg und Gewalt Deutschland erreichen.

Es war die „Verteidigung des Abendlandes“, was die Mörder zwischen 1992 und 1995 in Bosnien praktizierten. Sie glaubten, Tatarensturm und Türkenbelagerung rückwirkend zu bekämpfen, wenn sie Mitbürger, zum Teil sogar Nachbarn, abschlachteten und zu Tode quälten, sie wollten – so die Propaganda jener Zeit  - die Islamisierung Bosniens, des Balkan, Europas verhindern.

„Der Zeitpunkt ist endlich gekommen für die Rache an den Türken [= Muslimen] in diesem Ort.“
-Ratko Mladic, Hauptverantwortlicher des Massakers,
nach der Besetzung Srebrenicas am 11. Juli 1995

Ob wir über „Euro-Islam“ oder Islamfeindlichkeit sprechen, Srebrenica und seine Bedeutung sollten in unserem Bewusstsein präsent sein. Nicht um Alarmismus und eine negative Sicht auf unsere Zukunft zu befördern, nicht um eine Opferrolle zu zelebrieren. Aber um die Bedeutung von Worten, von Bildern und Vorstellungen zu unterstreichen, wenn Menschen gegen andere aufgehetzt werden. Um den Menschen, uns selbst eingeschlossen, präsent zu halten, worauf jede menschenfeindliche Strömung und Bewegung letztlich hinaus läuft, wenn man sie gewähren lässt.   

Nicht nur die politischen Erben der Mörder in Bosnien und Serbien, auch Akteure in unserer Gesellschaft leugnen das Verbrechen bis heute. Der PEGIDA Unterstützer Jürgen Elsässer ist nur ein prominentes Beispiel, er nennt den Völkermord eine Lüge und einen Mythos. Links- und Rechtsextremisten verschiedener Lager in Deutschland unternehmen die Relativierung, Leugnung oder Rechtfertigung des Völkermordes. Wo erstere das „angebliche Massaker“ als konstruierten Vorwand für die „imperialistische“ Bombardierung des ‚sozialistischen’ Jugoslawiens durch die USA/NATO und Deutschland darstellen, leugnen letztere das Massaker entweder als muslimische Propaganda-Lüge, oder sie rechtfertigen es als notwendige Selbstverteidigung der Serben gegen eine islamischen Eroberungsfeldzug der Bosnier und ausländischer Islamisten.

Als die Teilnehmer der ersten Bosnien-Bildungsreise des Rates muslimischer Studierender und Akademiker im vergangenen Jahr Srebrenica besuchten, sagte uns die Leiterin der Gedenkstätte, Hatidža Mehmedović, die selbst Ehemann und Söhne bei dem Massaker verlor, dass weit wichtiger als Geldspenden die Wahrheit sei; dass wir und all jene, die die Gedenkstätte und das nicht enden wollende Gräberfeld von Srebrenica besuchen, als Zeugen für das Geschehene wieder in die Welt hinaus gehen.
Im Angesicht der Leugnung des Massakers in unserem Land können wir das Eintreten für die Wahrheit und das Wachhalten der Erinnerung nicht allein den hier lebenden Bosnierinnen und Bosniern aufbürden, ihren Vereinen und Organisationen überlassen.

Darum müssen wir an Srebrenica erinnern. Darum müssen wir Zeugen sein. Darum müssen wir die Lektionen von Srebrenica lernen und daraus Konsequenzen für unser Handeln ziehen. Denn Erinnern ist nicht genug.

„Die bedeutendste Lehre aus Srebrenica ist, dass dem Versuch, eine Bevölkerung vorsätzlich und systematisch zu terrorisieren, zu vertreiben oder zu ermorden, entschieden und mit allen nötigen Mitteln entgegengetreten werden muss.
Die Tragödie von Srebrenica wird unsere Geschichte auf ewig verfolgen.“
-Aus dem UN-Untersuchungsbericht über
das Massaker von Srebrenica

Und schließlich heißt an Srebrenica erinnern auch Hoffnung leben, denn nach all dem Geschehenen glauben Menschen, in Bosnien wie auch hier, an Versöhnung, an ein Überwinden des Hasses und an eine andere Zukunft. Für sie eine Zukunft des Zusammenlebens in einem Bosnien-Herzegowina für alle Bürger; so, wie es im Krieg von Bosniern aller Glaubensrichtungen gemeinsam verteidigt wurde.
Für uns eine Zukunft, in der wir, die Muslime, die wir in Europa und in Deutschland unsere Heimat haben, mit allen Anderen in Sicherheit und Würde leben.

Möge aus Trauer Hoffnung werden!
Möge aus Rache Gerechtigkeit werden!
Mögen aus den Tränen der Mütter Gebete werden!
Dass Srebrenica nie mehr geschieht! Niemandem, nirgendwo!
Amin

- Bittgebet des Reis-ul-Ulema
Mustafa Efendi Cerić
Friedhof Potočari
11. Juli 2001

 

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