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Meine Umra-Reise im Ramadan

15.09.2012

Elhamdulillah, O ALLAH, erhöhe meine Verwunderung!

(Ein Bittgebet vom Propheten Mohammed - Allahs Segen und Frieden seien auf ihm)

Gestern, erster Deutschunterricht nach den Sommerferien in der 8. Klasse. Wie üblich, berichten alle von ihren Ferienerlebnissen, die meisten waren über die Ramadan-Wochen in der Türkei gewesen, um diesen Monat in vollen Zügen genießen zu können. Vorab entschuldige ich mich bei meinen Schülern dafür, dass ich zwar körperlich, jedoch seelisch absolut noch nicht anwesend bin und auch nicht sein kann, wegen den vielen Eindrücken, Erlebnissen usw.

Nun bin ich an der Reihe und berichte voller Begeisterung, Sehnsucht sowie einer großen Wehmütigkeit von meiner Ramadan-Umra-Reise. Sie lauschen interessiert zu und ich bemerke, dass ihre Augen sich immer mehr weiten und dabei manche wie ich den Tränen nahe sind.

Als ich von meinem ersten Anblick der Kaaba erzähle, meldet sich Abdurrahman aufgeregt und fragt mich: „Als Sie das erste Mal die Kaaba erblickt und danach gebetet haben, haben Sie sich zuhause gefühlt, nicht wahr? Als wären Sie immer schon dort gewesen?"

Erstaunt blicke ich ihn an und die Blicke sagen mir, dass wir das Gleiche fühlen und denken (trotz des Altersunterschiedes, trotz unserer unterschiedlichen sozialen Rollen). Danach antworte ich ihm: „Ja, genau! Als wäre es immer mein Zuhause gewesen, als wäre meine Seele an ihrem wirklichen Zuhause angekommen, es hat für mich nie eine andere Heimat gegeben, nie ein anderes Zuhause... Ich gehörte schon immer hierher... Woher weißt du das?"
Abdurrahman: „Ich war letztes Jahr auch dort und habe genau das gefühlt und erlebt, deshalb kann ich Sie verstehen.“

O mein Schöpfer, erhöhe immer und immer wieder meine Verwunderung, jene Verwunderung, die nirgendwo so intensiv erlebt wurde wie auf dieser Wanderung zu Dir…

Nun, es ist genau einen Monat her, dass ALLAH (der Allerbarmer, der Barmherzige) mir die Möglichkeit gewährte, im heiligen Monat Ramadan meine Umra-Reise zu machen und so eine Zeit voller Segnungen, emotionalen Momenten, Begegnungen mit den unterschiedlichsten Glaubensgeschwistern jeglicher Herkunft, sozialen Rollen  und verschiedenster Altersgruppen machen zu dürfen.

Zuerst verabschiedete ich mich von allen geliebten Menschen meiner Umgebung, um zu meinem Schöpfer zu wandern, eine Hicra zu IHM allein zu machen. Ich schloss mich einer Umra-Gruppe an, in der ich keinen der Reisenden vorher kannte.

Wie sonst soll der Diener eine bewusste Hicra durchführen, wenn er nicht bereit ist, alles ihm Geliebte und für ihn vermeintlich Unerlässliche verlassen zu wollen? Muss man nicht erst verlassen, loslassen,  um zu wandern und  „ankommen“ zu können? „Wandere aus deinem Haus aus und begib Dich zum Hause Gottes, ja in das Haus der Menschen. Und wer auch immer Du heute bist, Du warst ein Mensch, ein Kind Adams, aber die Geschichte, das Leben und die unmenschliche Gesellschaftsordnung haben Dich in Deiner göttlichen Natur entfremdet. Du warst Stellvertreter Gottes auf Erden, Sein Gesprächspartner und Sein engster Vertrauter. Du warst Herr über die Natur und Angehöriger Gottes. Der Geist Gottes war Dir eingegeben. Du warst Sein Schüler.

„Er lehrte Dich alle Namen und lehrte Dich, indem Er Dir das Schreibrohr in die Hand gab“ (Koran 96/4).“ (Schariati 1983, S. 13).

Lange vorher sehnte ich mich nach neuen Ufern aufzubrechen, dieser Stadt, der gleichen Umgebung und den bekannten Gesichtern, dem monotonen Tagesablauf den Rücken zu kehren. Besonders einen Ramadan zu erleben, der prägend für mein Leben sein sollte.  Mehr Verzicht zu üben, nicht mehr gewöhnlich zu sein, mich aus der verschlossenen Festung meiner Individualität zu befreien, als Zeichen der ewigen, meiner immer währenden Auswanderung, meines Werdens zu IHM.

Eines der eindrucksvollsten Aspekte der Umra war zweifelsohne das Anlegen des Ihrams am Flughafen und die Absichtserklärung in Miqat, was ich als das Gewand des Toten empfunden habe und so in einen anderen seelischen Zustand versetzt wurde. Ich hatte mich vorher auch in der Weise darauf vorbereitet, dass ich nun die gewöhnlichen Kleider des Lebens ablegen werde, um so nur noch ein Mensch zu werden. Schlicht, ohne Hinweis auf meine Person, ohne mich von allen anderen Menschen zu unterscheiden.  Ein Ausspruch des verehrten Propheten s.a.v. beschreibt diesen Zustand am ehesten: „Stirb, bevor Du stirbst!“ Nicht selten vergessen wir alle im Rausch des Alltags diesen zentralen Ausspruch und die Lebensphilosophie des Propheten, die uns dazu befähigen sollen, eine Balance zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, der wahren ewigen Heimat des Menschen, zu schaffen, ohne sich im Sog des Alltags zu verlieren und dem eine zu hohe Bedeutung beizumessen.  Darunter sollte nicht der Stillstand, sondern eine Bewegung, der Aufbruch zu einem Ziel, genauer gesagt eine gewisse Rückkehr zu ALLAH verstanden werden. Sagt Er nicht selbst von sich, dass Er jeden Tag mit etwas beschäftigt ist (siehe Koran 55/29) und wir nur durch das Tun von guten Werken (Koran 103/3) Sein Wohlgefallen erlangen können?

Eine Schwester in der Gruppe schien etwas verwirrt zu sein, dass ich ebenso wie die Brüder weiße Kleider anzog, obwohl es doch für Frauen nicht verpflichtend wäre. Auch wenn es nicht als Pflicht für die Frauen als Zeichen Seiner Erleichterung auferlegt wurde, wollte ich doch durch die Kleidung intensiver in diesen besonderen Zustand versetzt werden. Was sprach dagegen?

Nach dem Anlegen des Ihrams, meinem „Leichentuch“, fuhren wir vom Miqat (dem Sammelpunkt der Umra-Reisenden) zur Mescidi-Haram. Bald, sehr bald, sollte ich zusammen mit den anderen in meiner Gruppe die lang ersehnte Kaaba erblicken, wo ich, wie alle Muslime auch, mich in meinen Gebeten hinwende, wir alle diese als unsere Richtung, unseren Wegweiser ansehen, wo alle Gebete zusammentreffen; in Mekka, der Geburtsstadt von Mohammed s.a.v und des Islams. Eine große Spannung, gepaart mit einer Nervosität und Neugier, überkam mich. Meine Augen füllten sich mit Tränen. War das alles die Wirklichkeit, ich träumte doch nicht etwa?

„Labbaika, allahumma labbaika(…) (Herrgott, hier bin ich, nur Dir gebührt das Lob, von Dir kommt die Gnade und Dir gehört das Reich, Du hast keinen Teilhaber. Hier bin ich!", diesen Ruf sprachen wir, bis wir vor der Kaaba standen.

Was ich alles empfand, kann sehr schwer mit Worten erklärt und verständlich gemacht werden. Vielleicht fehlen mir die passenden Worte dazu, vielleicht bin ich einfach nicht imstande dazu, meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen…

Jedenfalls war es der emotionalste Moment meines Lebens, ich könnte mir keinen friedlicheren, schöneren Moment vorstellen. Hier war immer mein Zuhause gewesen, meine Seele ist an ihrem wirklichen Zuhause angekommen, es hat für mich nie eine andere Heimat gegeben, nie ein anderes Zuhause... Ich gehörte schon immer hierher. Normalerweise habe ich an jedem neuen Ort mich zunächst etwas fremd oder ein ungewohntes Gefühl erlebt, sodass ich umher schaute und versuchte mich einzuordnen. Hier, vor der Kaaba, gab es dieses Gefühl des Fremdseins, des Ungewohnten nicht. Ich verstand dieses Gefühl rein rational nicht,  es gab keine sachlich-sinnvolle Erklärung dafür, aber meine Seele verstand es anscheinend.

Wir führten in vorgesehener Weise die einzelnen Umra-Rituale durch, während ich versuchte, über diese und deren tieferliegenden Gründe nachzusinnen und in die Rolle von Hagar, der zweiten Frau des Propheten Ibrahim (Abrahams) symbolisch hineinzuschlüpfen und so ihre schwierige Prüfung nachzuvollziehen. Ihre Einsamkeit in einer verlassenen, trockenen Wüste zu empfinden und dabei an die Prüfungen der Menschheit und ebenso an meine eigenen nachzudenken. Die heilige Quelle Zamzam, die nach islamischer Auffassung  an Hagar erinnert, als sie in ihrer äußersten Not durch Gott diese Quelle geschenkt bekommen hat, vermochte mir ein Verständnis dafür zu geben, welche Segnungen wir von Allah zu erwarten haben, wenn wir uns ihm aufrichtig ergeben.

Ich war glücklich, aber auch körperlich sehr erschöpft  und betete zu meinem Schöpfer, dass er unsere Umra annahm und er ebenso diese Reise allen Geschwistern ermöglichen sollte, die diesen Wunsch in sich hegen. Zugegeben, ich hatte in meinem Leben noch nie zuvor so ein Durstgefühl empfunden, dass sogar mein Hals  regelrecht brannte und ich große Mühe hatte, den Weg zurück zum Hotel zu finden. Der absolute Verzicht, das Verlangen nach einem Schluck Wasser strengte mich zwar körperlich in immenser Art und Weise an, jedoch fühlte ich mich Hagar so näher und erlebte diese Umra als einen Weg, der mir vieles andere zurückgab und mich in der Rolle des „an der eigenen Grenze angekommenen“ zu erleben. Ja, ich war wahrhaftig an meinen körperlichen Grenzen angelangt, meine Seele schien keine solchen Grenzen kennen zu wollen…

Eindrucksvoll waren für mich ebenso die mehrmaligen Rundläufe um die Kaaba und die gemeinsamen Gebete, einschließlich der Taravih- und der Tahadschud (Spätnachgebete), gewesen. Es war, als würde der ganze Tagesablauf von Beten und dem Hören des Korans bestehen. So war es letztendlich auch, denn in Mekka stellt es eine Normalität dar, überall wo man einen Platz findet, sich zum Gebet zu stellen, auch wenn dieser fast mitten auf der Straße ist und Drumherum das große Verkehrs- und Menschenchaos herrscht. Die gemeinsamen Gebete gaben das oft vermisste Ummah- und Gemeinschaftsgefühl wider, denn neben mir reihten sich Geschwister aus allen Ländern und Städten dieser Welt ein, es entfielen somit auch die gesellschaftlich-sozialen Schranken, die wir uns oft auferlegen und die die Geschwisterlichkeit in ihrem Kern ersticken lassen. Sogar im Einkaufszentrum nebenan, mitten vor den Läden reihten sich Gläubige zum Gebet. Es war eine Selbstverständlichkeit  überall die Einladung Allahs anzunehmen und Harmonie zwischen dem weltlichen und dem jenseitigen Leben aktiv herzustellen.

Demgegenüber erinnerte ich mich an die Rückkehr des Propheten Mohammed (Allahs Segen und Frieden seien auf ihm) vom Berg Hira, nachdem er zum ersten Mal die Offenbarung empfing. Er wurde deshalb zum Vorbild der Menschheit, nicht weil er den Weg des Individualismus, oder gar der Einsamkeit oben auf dem Berg auswählte, auch wenn dies vermutlich einfacher und weniger beschwerlich für ihn gewesen wäre, sondern er wählte den schwierigen und doch gesegneten und von Allah gewollten Weg des sich Anschließens an die Gesellschaft und dabei des Handelns im Sinne von Gott.

Eine Besonderheit hatte die Umra-Reise für uns alle vor allem deshalb, weil wir den Monat Ramadan auch dort erleben konnten und somit das Fasten und die zusätzlichen Ibadah uns einen zusätzlichen spirituellen Input verschafften. Ich hatte den Eindruck, dass das gemeinsame Fasten, Beten sowie das Umrunden der Kaaba mich für den Koran stärker öffneten und ich die Ayats und deren Bedeutung an diesem heiligen Ort in vielfältiger Art und Weise erschloss. Der Koran stand im Zentrum allen Geschehens und Handelns, überall sah man Pilger, die bedächtig dem heiligen Buch lauschten, ihn selber lasen und sich mit anderen austauschten. Wie viele andere, nahmen wir die Gelegenheit wahr, die Itikaf am schönsten Ort der Welt zu erleben. Genauer gesagt, bezeichnet die Itikaf die Hingabe an das Gebet und der Koran-Lesungen in der Moschee, insbesondere während der letzten 10 Tage des Ramadans. Auch wenn ich diese mit zwei anderen Geschwistern wenige Stunden durchführte, war es schön, dieser vorbildlichen Sunna des Propheten nachzugehen, um sich unter anderem dem Studium des Korans zu widmen.

Rückblickend gibt es nur noch sehr wenige negative bzw. schwierige Aspekte, die mir im Gedächtnis geblieben sind, auch wenn gerade diese Schwierigkeiten in manchen Momenten eine große Geduldsprobe für mein Nafs bedeuteten. Beispielsweise empfand ich im Allgemeinen die hohe Anzahl der Pilger als ein großes Segen, da sie ungemein die Tiefe der Ibadas und das Umma-Gefühl steigerte, trotz dessen gab es Momente, wo die Menschenmenge als erdrückend empfunden werden konnte, wenn man vor allem keinen Platz zum Beten fand oder zum wiederholten Male seitens der Mitarbeiter, der Pilger von diversen Plätzen verwiesen wurde. So kam es, dass wir einige Rakat „verpassten“, weil wir eine geeignete Stelle finden mussten.

Im Übrigen sei laut dem Saudischen Vizeminister für Hajj und Umra, Issa Rawas, die Zahl der Besucher für Umra diese Saison so hoch gewesen, wie noch nie zuvor. Insgesamt sollen es  ca. 5,8 Millionen Menschen gewesen sein!

Unverständlicherweise wurden den Männern mehr Gebetsplätze zur Verfügung gestellt, besonders die hoch Begehrten vor der Kaaba, die uns somit an manchen Tagen verwehrt waren.  Des Weiteren stellten zum Teil die unzureichenden Hygienebedingungen, die wir aus Deutschland in der Weise nicht kannten, eine Umstellung für uns dar, an die wir uns zunächst gewöhnen mussten.

Hatten diese „negativen Seiten“ der Umra nicht ebenso einen tieferen Sinn, die ich verstehen sollte? Ja, das hatte sie fürwahr! Sie war für uns eine Vorbereitung auf den Jüngsten Tag, an dem jede Seele nur mit sich selbst beschäftigt sein- und die gesamte Menschenmasse in eine einzige Richtung zulaufen wird. In diesem sogenannten „Chaos“ steckte trotz allem sehr viel Harmonie und Ordnung. Ich erinnere mich noch genau an meine Faszination, als die Pilger, die gerade die Tawaf machten, innerhalb von wenigen SEKUNDEN sich kreisförmig zum Gebet hinstellten. Wo sonst konnte das möglich sein? Ich spürte überall die schützende und führende „Hand Allahs“, nur Er konnte zweifelsohne der „Organisator des größten Events“ sein. An jedem anderen Ort der Welt wäre diese Organisation, meiner Ansicht nach, zum Scheitern verurteilt, sie würde zusammenbrechen bzw. in einem großen Chaos enden…

Mekka- der Geburtsort des Islams, Medina- die Stadt des Propheten, Kaaba, Safa und Marva, Ramadan, die Umma, die schönen intensiven Gebete, das Fasten, die Sehenswürdigkeiten, die Bittgebete, der Durst, die Geschwisterlichkeit, die schwierigen Momente der Prüfung des Nefs, der schwarze Stein sowie mein Treuegelöbnis. Ich werde alle Aspekte vermissen. Wer weiß, wann eine erneute Begegnung mit all dem möglich ist? O Allah, wie kann ich Dir jemals dafür angemessen meine Dankbarkeit zeigen? Wahrscheinlich gibt es dafür keine Entsprechung, ich kann nur in aller Demut und der vollen Bewusstheit sagen, dass Du derjenige bist, dem aller Dank und Hingabe gebührt!

Von: Serife Ay, Lehrerin aus Essen (NRW)

 

Literatur:

Dr. Ali Schariati "Hadsch", Erscheinungsjahr: 1983