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Mein Semester in Istanbul

11.09.2012

Als ich meinen spontan entschiedenen einsemestrigen Aufenthalt in Istanbul bekanntgab, bekam ich von allen Seiten euphorische Reaktionen. Nicht umsonst. Die Stadt trägt einen universellen Charakter und zieht Millionen von Menschen an. So wird Alphonse de Lamartine ”If one had but a single glance to give the world, one should gaze on Istanbul” oder Chateaubriand zitiert: ”People were right when they say there is no other place on earth as beautiful looking as Istanbul.”

Unabhängig von Charme und Schönheit der Stadt Istanbul selbst, herrscht unter den Türkischstämmigen momentan parallel mit dem politischen und wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei sowie mit den Diskriminierungserfahrungen in Deutschland – so kann man das denke ich zusammenfassen – eine Rückkehrorientierung in die Türkei.

Auch ich war hiervon nicht unbeeinflusst. So war ich gespannt und voller Neugier auf mein Soziologiestudium beendenden Aufenthalt in der Stadt Istanbul. Denn selbstverständlich ist ein Aufenthalt im Rahmen eines Urlaubs etwas völlig anderes als wirklich in dem Land zu leben.

Ich hatte auch so meine ”Vorurteile” über die Stadt: Verkehrsunfälle und Kriminalität schreckten mich etwas ab. Statistische Daten zu Kriminalität haben mich aber beruhigt. Denn nicht Istanbul ist die kriminellste Stadt in der Türkei, sondern Antalya. International verglichen zu Europas Großstädten steht Istanbul auch nicht schlecht dar. Die Kriminalitätsrate von Istanbul liegt unter Städten wie Berlin oder Brüssel.

Die zahlreichen Stadtteile vertreten verschiedene Welten für sich. Je nach Stadtteil trifft man verschiedene Menschen und Lebensstile und es herrschen unterschiedliche Atmosphären. Während Üsküdar für seine konservativen und wohlhabenden Menschen bekannt ist, stehen Beşiktaş und seine Gegend für modernere und westlich orientierte Menschen. Die Stadt wird durch den Bosporus, der Meerenge, in die asiatische und die europäische Seite aufgeteilt, deren Überquerung von den Bewohnern als Riesenschritt gesehen wird. Die asiatische Seite ist ruhiger, auf der europäischen Seite hingegen befindet sich die historische Halbinsel. In den historischen Stadtteilen wie Üsküdar, Beşiktaş, Eyüp oder Süleymaniye trifft man immer wieder auf kunstvolle Häuser aus Holz mit ihrem eigenen osmanischen Baustil. Um in dieser Stadt mit hoher Luftfeuchtigkeit Krankheiten vorzubeugen, baute man diese früher aus Holz.

In dieser Stadt mit tausenden Jahren Hauptstadttradition gibt es viel Geschichte zu schnuppern. Die orientalische Atmosphäre, der Ägyptische Basar, wo ich gern den Kaffee roch, die Kapalı Çarşı (der Große Basar) mit ihrer Aufschrift ”Al Kasibu Habibullah”; ‘Der Verdienender ist Gottes Liebling’. Welchen man nicht nur materiell, sondern auch als Gewinner der Herzen interpretieren kann. Istanbul, eine Synthese zwischen der faszinierenden Kunst, der jahrhundertealten Geschichte und der wundervollen Natur. Meine Faszination von der Schönheit der Stadt dauerte deshalb bis zum Ende des Aufenthaltes an.

Die Stadt steht auf sieben Hügeln, weshalb man für Istanbul auch ”Yedi Tepe” sagt. So ist es nicht verwunderlich, wenn man in dieser Stadt keine geraden Straßen, die ich neben dem ”türkisch-deutschen Weichkäse in Salzlake” sowie dem kalten Hahnwasser vermisste, vorfinden kann. Überraschenderweise bin ich bei all meinen Erkundungsversuchen bei den halben Straßen mit plötzlich auftauchenden Stufen und dem überfüllten, chaotischen Verkehr unverwundet davon gekommen. Fahrrad zu fahren war nicht bloß aufgrund der Fahrweise der Verkehrsteilnehmer, sondern vielmehr wegen den Straßen nicht möglich, sodass ich diese Alternative sofort beiseitelegen musste. Zur Universität musste ich mit dem Dolmuş fahren, in dem ich bei dem Rasertempo einige Male an die Wand gestoßen oder runtergefallen bin. Anfangs konnte ich nicht glauben, wie die Dolmuşfahrer während sie auf diesen Straßen gefahren sind, parallel die Fragen der Fahrgäste beantwortet, das Restgeld zählten und zurückgaben sowie nach weiteren Fahrgästen Ausschau hielten, später aber gab ich das auf und schaltete mein Gehirn ab. Mehrere Male musste ich im Dolmuş ernsthaft das Glaubensbekenntnis aussprechen, und freute mich lebend rausgekommen zu sein.

Täglich verbringen Istanbuler 2,5 Stunden im Verkehr. Nicht selten hatte ich das Gefühl, von morgens bis abends den ganzen Tag nur Abgase eingeatmet zu haben. Überfüllte Busse, Straßenbahnen und Metros und im Stau stehen gehört zu den Standards des Alltagslebens. Hier rate ich, sich schon von Anfang an darauf einzulassen und während den Fahrten nicht auf die Uhr zu schauen. Toll war aber im öffentlichen Verkehr jedes Mal zuzusehen, dass Männer den Frauen egal welchen Alters ihren Platz anboten.

Der Verkehr frisst einem derartig die Zeit auf, dass man zu der in Fülle angebotenen kulturellen und weiterbildenden Veranstaltungen, weshalb ich auch diese Stadt als Zentrum der Wissenschaft bezeichnen würde und wovon ich fasziniert war, gar nicht so kommt, wie man sich das vornimmt. Entweder werden diese in einem weit gelegenen anderen Stadtteil oder zur gleichen Zeit angeboten, sodass man wenig davon hat.

Übrigens, man benötigt keinen Stadtplan, damit wird man ausgelacht (wahrscheinlich da ich kein touristisches Aussehen hatte). Mit der Zeit kümmerte ich mich nicht viel um das Erreichen des fremden Zielortes. Die Menschen um mich herum waren mir jedes Mal behilflich. Es war schön zu sehen, wie Kinder auf der Straße ”Sollen wir dich da hinbringen?” fragten oder Leute, die sich großzügig um dich kümmerten. Die Flexibilität, also der Verlass auf die Menschen, wenn es um Hilfe und Nachfragen ging, aber auch wenn es darum ging, mal nicht an der Haltestelle selbst einzusteigen, sondern etwas entfernter davon, erleichterte und verschönerte das Leben dort.

Es war ein anderes Gefühl, plötzlich nur von ”Türken” umgeben zu sein. Von außen wurdest du nicht mehr als Fremder per se behandelt. Die Erwartung von der Umgebung, den Anpassungsdruck und das Rechtfertigungsgefühl hatte man plötzlich nicht mehr. Man entfernte sich davon und fand dadurch mehr zu seiner türkischen und muslimischen Identität. Es vollzieht sich eine Entfremdung von den ständigen und nicht sein Ende findenden Diskussionen über den Islam oder Integration. Somit wird man mit dieser Thematik auch nicht mehr aufgehalten.

Dennoch fühlte man sich auch hier irgendwie fremd. Man begegnet auch hier Unverständnis. Zwei Kulturen auf ein Mal zu beherrschen, zwei Kulturen anzugehören, kann auch hier nicht realisiert werden. Die türkische Mentalität kam mir auch gewöhnungsbedürftig vor. Im Gegenzug zur deutschen Sachlichkeit, trifft man von staatlicher Ebene bis zu alltäglichen zwischenmenschlichen Begegnungen eine Haltung auf emotionaler und persönlicher Ebene. Die Empfindlichkeit und das ständige Beleidigtsein, sowohl an dem Arbeitsplatz, als auch unter Freunden und Bekannten ist hierfür ein Beispiel. An einer Erfahrung an meiner Universität beispielsweise bestätigte sich dies auch ganz klischeehaft: Im Unterricht. Der Dozent hustet und entschuldigt sich ”Ich bin etwas krank”. Daraufhin ertönten alle Studenten: ”Hocam geçmiş olsun!” (Gute Besserung). Der eine holte Wasser, die andere Kaffee, eine andere Tee! Verbreitet scheint an der Uni ebenso die Gruppenarbeit zu sein. Es scheint keinem einzufallen, individuell zu lernen.

Der vorbeilaufende alte Mann ‘amca’ der mir bei der Abreise, als ich mit meinen fünf Koffern und etlichen Taschen auf das Taxi wartete, beim Tragen half. Die spielenden kleinen Jungs auf der Straße, die mir den Weg gezeigt und mir vorgeschlagen haben, mich dorthinzuführen. Die Frau, die mir trotz ihrer Eile den Weg beschrieb und an einem anderen weitergab, die Unterhaltungen mit dem Busfahrer, diese Dinge werde ich in Deutschland nicht mehr so leicht finden. Dadurch, dass man jetzt nur von Türken umgeben war, die man als Muslim gleichdeutete, entstand eine Erwartungshaltung gegenüber den Menschen. Auf persönlicher Ebene erwartete man Begrüßung, Lächeln und Vertrauen oder allgemein das muslimische Verhalten selbst. Dass man auf das wiederum nicht traf, enttäuschte und überrumpelte einen. Jedoch begegnete man auch Szenen wie das Abdrehen des Radios aus Respekt zum Adhan, Geschirr- und Küchenlauten zum Sahur, das Eilen zum İftar, was dieses Gefühl kompensierte.

Was mir ebenso auffiel, auch wenn mir das nur anfangs ins Auge stach und mich im Nachhinein weniger störte, war die Gier der Menschen danach, Geld zu verdienen. Es kam mir so vor, als ob jeder versucht, andauernd sich selbst irgendwelche Vorteile zu verschaffen. Alles dreht sich um Geld. Das einheitliche Problem von allem scheint Geldverdienen zu sein. Die stets wache und aufmerksame Art der Kinder scheint eine Übertragung dessen zu sein. Es gilt: Immer auf der Hut vor der potenziellen Gefahr (es kann ja alles passieren) sein, weshalb man sich auch eher mit Misstrauen begegnet. Man hat beim Einkaufen ständig das Gefühl gehabt, hinters Licht geführt und ungerecht behandelt worden zu sein. Diese ungleiche Behandlung, somit die Ungerechtigkeit hat mich jedes Mal gestört. Durch die geringe Standardisierung im Land und die Verflechtung in persönliche Beziehungen muss man in diesem Land alles individuell durchsetzen, was wiederum die Menschen zu Egoismus zwingt.

Schwer fiel mir auch die Begegnung mit der, aus Minderwertigkeitsgefühl resultierte, Überbetonung des Modernen im Gegensatz zum Traditionellen, was man in dieser kosmopolitischen Stadt immer wieder erfuhr. So kosmopolitisch und interkulturell wie die Stadt sich nennt, vermisste ich das Interkulturelle, d.h. unterschiedliche Kulturen wie in Deutschland.

Wie unser Prophet es mal sagte: “Reist, um Gesundheit zu begegnen.” Durch das Ändern des Ortes, an dem man sich befindet, kommt eine Erleichterung mit sich. Im Türkischen besagt ein Sprichwort: Nicht der, der lang lebt, sondern der, der viel verreist weiß viel. Oder mit Goethes Worten: ”Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.” Mit dem Bewusstsein des begrenzten Aufenthaltes erging es mir so, dass ich jeden Moment in dieser Stadt genutzt habe und mir der Zeit bewusster war. Carpe Diem oder ‘İbnul Vakt’, der Sohn der Zeit sein. Das kann man auch als eine Probe für das ganze Leben sehen, denn wie schnell ein Semester vergeht, so schnell vergeht auch das Leben. Man muss sich jeder vergehenden Sekunde bewusst sein.

Reisen selbst ist eine Gelegenheit, um Erkenntnisse zu gewinnen, sowohl auf die Welt bezogen, als auch auf sich selbst. Durch das Kennenlernen neuer Orte, neuer Menschen, neuer Umstände und Situationen bekommt man die Gelegenheit, neue Perspektiven zu gewinnen, Gewohnheiten zu ändern, sich positive Charaktereigenschaften anzueignen und schlechte abzulassen, statt immer in dem unbewussten Schema weiter blind fortzuleben.

Man sieht alles von Vorne, von Weitem, von Neuem.

Den ganzen Filter weglassen und sich neu beleben.

 

Sümeyye Demir, www.suemeyyedemir.wordpress.com