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Beschneidungsurteil - Kulturalisierung des Strafrechts

14.07.2012

Angeblich geht es um das Eindämmen religiös motivierter Gewalt gegen Kinder, doch in Wirklichkeit steckt mehr hinter dem Urteil – Zum Beschneidungsurteil des Kölner Landgerichts.

Vielen hängt das Thema schon zum Halse raus, obwohl das umstrittene Beschneidungsurteil des Kölner Landgerichts vom 07. Mai 2012 erst kürzlich bekannt wurde. Verständlich vor dem Hintergrund der Flut von überwiegend emotionsgeladenen Kommentaren, die uns dieser Tage heimgesucht hat. Wie weggespült scheint dabei die juristische Nüchternheit, mit der man ein strafrechtliches Urteil eigentlich bewerten sollte. Umso gespannter war ich auf die Urteilsgründe. Zunächst dachte ich der Drucker sei defekt, als er mir lediglich sieben Seiten Urteilsgründe ausdruckte, obwohl ausreichend Papier zur Verfügung stand. Als ich aber die Kostenentscheidung sowie die Unterschrift des Vorsitzenden Richters der ersten kleinen Strafkammer des Kölner Landgerichts auf der letzten Seite sah, wusste ich, am Drucker lag es nicht.

Erstaunt nahm ich zur Kenntnis, dass der Strafkammer sieben Seiten ausreichten, um ein historisch beispielloses Urteil mit unvorhersehbaren und vielleicht verheerenden Folgen zu begründen. Entweder mir lag ein juristisch geniales, weil gut begründetes und doch pointiertes strafrechtliches Urteil vor, neigen Richter doch ohnehin zu zeitökonomischen Ausführungen – nicht zuletzt wegen der starken Überlastung der Gerichte – oder aber die Strafkammer war sich der Tragweite ihrer möglicherweise unzureichend begründeten Entscheidung nicht bewusst. Ich höre nämlich schon wie Hobbychirurgen ihre Schweizer Messer schärfen und sich über einen lukrativen Nebenverdienst freuen. Die Knabenbeschneidung – ein Jahrtausende alter und zugleich moderner Brauch – wird das Urteil jedenfalls nicht verhindern können, auch und vor allem in der Bundesrepublik nicht. Vielleicht wollte man auch einfach nur Geschichte schreiben. Letzteres ist definitiv – vorsatzunabhängig – gelungen. Ein aufmerksamer Blick in die kurze Urteilsbegründung wirkte ernüchternd: Richterliche Genialität, ein Urteil gleichsam wasserdicht und knapp zu begründen, konnte hier ausgeschlossen werden. Knapp ja, wasserdicht keineswegs.

Kulturalisierung des Strafrechts
Gleich zu Beginn bahnen sich darin sogar anbiedernd kulturalistische Risse an. Denn scheinbar anders als der Staatsanwaltschaft war es der zuständigen Strafkammer besonders wichtig zu ergänzen und festzustellen, dass die Familie des Kindes dem islamischen Glauben angehöre und die Beschneidung aus religiösen Motiven erfolgt sei. Dieser Aspekt ist alles andere als zu beanstanden, sofern die Strafkammer den religiösen Antrieb der Eltern nicht als einzige sorgerechtliche Dispositionskomponente in der Kindeswohl-Abwägung berücksichtigt hätte, wie hier aber – und das viel zu kurz kommend – geschehen. Eine derart reduktionistische Sicht fördert die als Folgeproblem der religiösen Pluralisierung vermehrt zu beobachtende Kulturalisierung des Strafrechts, in der „durch die strafrechtliche Blume“ die eine oder andere Kulturkampfdebatte ausgetragen wird.

Anstoß der Beschneidungsdiskussion
Die strafrechtliche Beschneidungsdiskussion mit angestoßen hat der an der Universität Passau lehrende Juraprofessor Holm Putzke, auf dessen Rechtsansicht zur strafrechtlichen Bewertung der Knabenbeschneidung die Strafkammer in ihrer Entscheidung u.a. verweist, der das Urteil mit den Worten kommentierte: „Es wird nachdem die reflexhafte Empörung abgeklungen ist, hoffentlich eine Diskussion darüber in Gang setzen, wie viel religiös motivierte Gewalt gegen Kinder eine Gesellschaft zu tolerieren bereit ist.“ Eine Kulturkampfrhetorik, die kelek´sche Züge aufweist. Denn wer in einer Gesellschaft, in der glaubensgeprägte Lebensbereiche zurücktreten, religiös motivierte Gewalt und Kinder ohne Weiteres in einem Atemzug nennt, spricht in erster Linie Emotionen und nicht die Ratio an. Welche säkularisierte Gesellschaft kann – vor allem religiös motivierte – Gewalt gegen Kinder tolerieren? Bewusst wird ausgeblendet, dass (und zwar auch aus religiöser Sicht) lediglich die lege artis durchgeführte Knabenbeschneidung zur Debatte steht und diese nicht bloß religiös motiviert sein muss, sondern aus multiplen Motiven gerade vermehrt auch von Nichtmuslimen und Nichtjuden praktiziert wird.

Die Urteilsgründe im Einzelnen
Auch das Urteil scheint von dieser generell religionskritischen Grundhaltung beseelt zu sein.

Der fachgerecht handelnde Arzt wurde für die Beschneidung im konkreten Fall zwar freigesprochen, weil er einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterlag und damit schuldlos agierte (§ 17 Satz 1 Strafgesetzbuch). Er nahm fälschlicher-, aber (bis zur Urteilsverkündung) nachvollziehbarerweise an, sein Handeln sei gestattet. Die Tat sei jedoch nicht durch die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt, zumal ihr Sorgerecht gemäß § 1627 Satz 1 BGB lediglich Erziehungsmaßnahmen decke, die dem Wohl des Kindes dienten, wozu die Beschneidung gerade nicht gehöre. Insoweit verweist die Strafkammer lediglich auf die – wie sie betont – „wohl herrschende Auffassung in der Literatur“. Die Anlehnung an die vermeintlich herrschende Auffassung in der Literatur wirkt dabei so, als sei eine umfassende Begründung dafür, warum die Beschneidung dem Kindeswohl nicht entspreche und wie weit dabei der sorgerechtliche Ermessensspielraum der Eltern reiche, obsolet. Nicht religiöse Aspekte der (nicht zwingend medizinisch indizierten) Beschneidung, die für das körperliche Kindeswohl streiten könnten, werden gänzlich ausgespart. Vielmehr scheint der Strafkammer bloß die Religiosität ein Dorn im Auge zu sein. Denn nach ihrer Ansicht folge ihr Urteil dabei möglicherweise bereits aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 WRV, wonach die staatsbürgerlichen Rechte durch die Ausübung der Religionsfreiheit nicht beschränkt werden. Damit wird dem Leser zugleich die „richtige Brille“ aufgesetzt durch die man die genannten Artikel lesen und verstehen sollte, und zwar in dem Sinne, dass die – in diesem Fall muslimische – Religionsausübung in (etwaigen) Kollisionsfällen im Zweifel stets das Nachsehen hat.

Diese reduktionistisch-religionskritische Stoßrichtung behält die Strafkammer in ihren weiteren Ausführungen bei, wenn sie ausführt, dass jedenfalls Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG selbst den Grundrechten der Eltern eine verfassungsimmanente Grenze ziehe. Vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sei die in der Beschneidung zur religiösen Erziehung liegende Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Jungen jedenfalls unangemessen. Dies folge bereits aus der Wertung des § 1631 Abs. 2 Satz 1 BGB. Zudem werde der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung laufe dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider. Umgekehrt werde das Erziehungsrecht der Eltern nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten seien abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig sei, selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam entscheide.

Der vorgenannte Argumentationsstrang ist insgesamt unschlüssig. Denn: Mit Blick auf § 1631 Abs. 2 BGB hat die Strafkammer eine eigensinnige Wertung vorgenommen, die sich in der von ihr gewünschten Allgemeingültigkeit nicht abstrahieren lässt. Satz 1 der besagten Norm bestimmt nämlich, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Satz 2 konkretisiert, dass körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen unzulässig sind. Fachgerecht durchgeführte, über Jahrtausende tradierte und allseits bekannte Beschneidungen hatte der Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) bei der Normierung des § 1631 Abs. 2 BGB – anders als die Strafkammer suggeriert – sicher nicht gemeint. Die Jungenbeschneidung implizit als unzulässige körperliche Bestrafung, seelische Verletzung oder eine entwürdigende Maßnahme (vgl. § 1631 Abs. 2 Satz 2 BGB) zu werten, ist nicht nur in der bundesdeutschen Judikative historisch ohne Beispiel. Dass der Körper des Kindes durch die Beschneidung ferner dauerhaft und irreparabel verändert wird, kann nicht bezweifelt werden. Nolens volens nimmt die Strafkammer hier aber eine weitreichende Wertung vor. Denn die Ausführungen der Strafkammer konsequent zu Ende gedacht würde bedeuten anzunehmen, dass alle körperlich-irreversiblen Eingriffe an Kinder – mit Ausnahme der medizinisch indizierten – rechtswidrig sind, und damit etwa auch das Stechen von Ohrläppchen. Eine Differenzierung etwa hinsichtlich der Intensität des körperlich-irreversiblen Eingriffs wird versäumt. Zudem stuft das Gericht körperlich-irreparable, aber fachgerechte Maßnahmen, implizit und unbegründet als schwerwiegendere Beeinträchtigung ein, als geistige, ebenso dauerhafte und irreparable Eingriffe mit möglicherweise viel verheerenderen Folgen für das Kind und die Gesellschaft. Schlicht falsch ist die Erwägung der Strafkammer, dass diese körperliche Veränderung dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwiderlaufe. Trotz der fehlenden Vorhaut bleibt es nämlich jedem unbenommen, die Religion zu wechseln. Schließlich wird nicht die Selbstbestimmungsfreiheit auf Dauer entfernt, sondern die Penisvorhaut. Letztendlich argumentiert die Strafkammer – daran sei noch einmal erinnert –, dass umgekehrt das Erziehungsrecht der Eltern nicht unzumutbar beeinträchtigt werde, wenn sie gehalten seien abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig sei, selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam entscheide.

Der verkürzte Blick der Strafkammer wird durch diese insoweit abschließende Erwägung abgerundet. Das Erziehungsrecht der Eltern wird insoweit beeinträchtigt, als ihnen von vornherein das Recht genommen wird, entscheiden zu dürfen, ob ihr Junge beschnitten werden soll oder nicht, und zwar aus mehreren in Betracht kommenden und nicht bloß religiösen Motiven. Beschneidungen können u.a. ästhetisch, medizinisch und/oder religiös motiviert sein. Dies erklärt auch, warum die Zirkumzision als die häufigste Operation im Kindesalter gilt. Über 70 Prozent der Amerikaner sind beschnitten, und dies in großen Teilen sicherlich nicht aus islamischen Gründen. Die Frage der Zumutbarkeit der Beeinträchtigung des Elternrechts entscheidet sich an der Frage, ob die Knabenbeschneidung dem Kindeswohl dient (darin erfährt auch das Recht des Kindes auf Körperliche Unversehrtheit eine Konkretisierung), vor der sich die Strafkammer unter Verweis auf die vermeintlich „herrschende Auffassung in der Literatur“, dass es eben nicht so sei, augenscheinlich gedrückt hat.

Dieser Umstand gemeinsam mit dem gerichtlichen Verweis auf die Feststellung des Sachverständigen, wonach jedenfalls in Mitteleuropa keine Notwendigkeit bestehe, Beschneidungen vorbeugend zur Gesundheitsvorsorge vorzunehmen, offenbart, dass die Strafkammer Beschneidungen ausschließlich im Falle ihrer medizinischen Indikation als dem Kindeswohl dienlich annimmt. Damit die stellvertretende Einwilligung der Sorgeberechtigten aber über medizinisch zwingend indizierte Eingriffe hinaus noch selbständige Bedeutung haben kann – wie es verfassungsrechtlich vorgesehen ist –, darf die positive Feststellung, was in der konkreten Situation objektiv im besten Interesse des Kindes ist, gerade nicht dem Gericht obliegen. Ansonsten kämen wir einer staatlichen Bevormundung nahe, die wir meinten überwunden zu haben. Pointiert drückt es Bijan Fateh-Moghadam aus: „Die Wahrnehmung und Ausfüllung der auch körperbezogenen Selbstbestimmungsinteressen als grundrechtlich geschützter Teil der Personensorge obliegt vorrangig den Eltern.“ Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund bleibt dem Gericht lediglich die negative Feststellung, ob die Dispositionsbefugnis der Sorgeberechtigten nicht objektiv-evident missbraucht wird. Weil die fachgerechte Beschneidung ungefährlich ist, Folgeschäden äußerst selten sind und sie aus präventiv-medizinischen Gründen gar empfohlen wird, ist ein objektiv-evidenter Missbrauch der Dispositionsbefugnis als strafrechtliche Grenze der stellvertretenden Einwilligung nicht ersichtlich (vgl. insgesamt nur Bijan Fateh-Moghadam, RW – Heft 2 2010, Religiöse Rechtfertigung? Die Beschneidung von Knaben zwischen Strafrecht, Religionsfreiheit und elterlichem Sorgerecht, S. 115, 131 ff.). Aus diesem Grund ist ein „Abwarten“ der Eltern doch nicht zuzumuten bzw. wird das Erziehungsrecht der Eltern unzumutbar beeinträchtigt, wenn ihnen die Entscheidung darüber genommen wird.

„Die Kirche im Dorf lassen“
Nach diesem bemerkenswert oberflächlich begründeten Urteil mit ausschließlich religionskritischen (um nicht zu sagen religionsfeindlichen) Tendenzen erschließt sich mir, warum die meisten Stellungnahmen dazu religionsperspektivisch und kaum juristisch ausgefallen sind. In dieser Form wirken diese aber kontraproduktiv, zumal man sich dadurch bewusst oder unbewusst an einer strafrechtlich verkleideten Kulturkampfdebatte beteiligt, die man aber gerade verhindern will. Vielmehr sollte die Kirche im Dorf gelassen und das strafrechtliche Beschneidungsurteil nüchtern auf den juristischen Prüfstand gestellt werden. Auf diese Weise lässt sich die Kulturkampfrhetorik von begründeten juristischen Erwägungen ausdifferenzieren und das Urteil entblößt sich als das, was es ist: Ein (leider rechtskräftiges) Fehlurteil. Ohne Zweifel lässt sich dem Beschneidungsurteil abgewinnen, dass es zumindest für das diffizile Thema sensibilisiert hat, denn tatsächlich geht mit der Knabenbeschneidung auf immer ein Stück Vorhaut verloren, auch wenn man sie – und auch das soll vorkommen – zu Erinnerungszwecken aufbewahren sollte. Die körperliche Unversehrtheit des Kindes, die bei der Beschneidung beeinträchtigt wird, wiegt ohne Zweifel schwer. Dem Anspruch auf eine differenziert-sachgerechte Abwägung, die ein Schöpfen aus dem „Vollen“ voraussetzt, sowie auf Rechtssicherheit und –klarheit ist die Strafkammer mit dieser Entscheidung allerdings nicht gerecht geworden. Abgesehen von der kulturalis­tischen Überfrachtung dieser Strafrechtsproblematik wirkt das Urteil schlicht bevormundend, insoweit die Strafkammer ohne stichhaltige Argumente bestimmt, dass (medizinisch nicht zwingend indizierte) Beschneidungen per se nicht dem Wohl des Kindes dienten und sie somit nicht von der Dispositionsbefugnis der Sorgeberechtigten gedeckt seien. Ein verfassungsrechtlich garantierter Ermessensspielraum wird den Sorgeberechtigten insoweit unbegründet vorenthalten. Ganz abgesehen davon, wird diese de jure Entscheidung de facto dem Kindeswohl definitiv nicht dienen, sondern eher schaden.

Apropos Kulturalisierung des Strafrechts: Wenn schon die Beschneidungsproblematik in der Frage der Reichweite der Religions(ausübungs)freiheit der Sorgeberechtigten erschöpft wird, dann sollte letzteres aber zumindest gebührlich gewichtet werden. Insoweit soll mit Blick auf den Gesetzgeber noch einmal daran erinnert werden, dass nach Rechtsansicht der o.g. Strafkammer, die zwar für andere Gerichte nicht bindend ist, jedoch Nachahmer finden könnte, kein neugeborenes Kind auf dem Boden der Bundesrepublik Jude im jüdisch-rechtlichen Sinne werden darf! Schließlich ist die (Knaben-) Beschneidung im jüdisch-rechtlichen Verständnis konstitutiv für die jüdische Zugehörigkeit. In orthopraktischer und damit entscheidender Hinsicht gilt Vergleichbares für Muslime: Wenn schon nicht islamrechtlich so aber jedenfalls „muslimfaktisch“ wird die Knabenbeschneidung ebenso identitätsstiftend gewertet.

 

Von: Cefli Ademi

 

übernommen mit freundlicher Genehmigung vom MiGAZIN

http://www.migazin.de/2012/07/06/beschneidungsurteil-kulturalisierung-de...