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Wenn Religiöse Texte zu Streitmitteln werden

05.09.2014

„Häufig endet es darin, dass sie islamische Texte als Streitmittel benutzen“ sagte Ustadh Nouman Ali Khan in einem seiner Vorträge, als er über Familienharmonie und Ehen sprach. Damit beschrieb er sehr treffend etwas, das ich ebenfalls wahrnahm und nicht so Recht in Worte fassen konnte; hast du Streit mit einem Freund, missfällt dir eine Eigenart deines Ehemannes oder deiner Ehefrau oder wurdest du zutiefst von einem deiner nächsten Mitmenschen verletzt? Dann finde ganz schnell einen Hadith zum Kontern, denn der Prophet sagte: „…!“ Und im Koran heißt es sinngemäß: „…!!!“ Eine Aussage vom großen Gelehrten und Erleuchteten Fulan ibn Fulan, der sogar zu den Salaf as Salihin gehört, erfüllt notfalls auch ihren Zweck.

Also: Mir (=subjektiv) missfällt etwas. Ich probiere nicht mit den selbständigen Mitteln der Kommunikation klarzukommen, sondern erhebe mein subjektives Problem zu einem religiösen Desaster und argumentiere mit Quran & Sunnah! Mit was sonst?

Vermutlich geschieht das Ganze auch gar nicht so vorsätzlich und bewusst. Es geschieht aber und das im Gewand der „Nasiha“.

 

Was ist eine Nasiha?

Etymologisch leitet es sich von der Wortwurzel „na-ṣa-ḥa“ ab, was „einen guten Rat geben“ oder auch „aufrichtig sein“ bedeutet. Eine Naṣīḥa ist also ein aufrichtiger, guter Ratschlag. Aufrichtigkeit wiederum ist eine islamische Tugend, bei der man exklusiv für Gott wirkt und handelt, also eine gottbezweckte Intention innehat. Bis hier reichen die Definitionen, aber was ist „gut“? Wollen wir uns diesem Wertbegriff sprachtheoretisch, ethisch oder metaphysisch nähern? Gar nicht erst einmal. Das wäre zu viel des Guten. Aber Kriterien wie „qualitativ“, „konstruktiv“ und „nutzenbringend“ umreißen das „Gute“.

 

Und somit unsere Naṣīḥa an uns selbst und an alle Leser:

Wir sollten überprüfen, ob unsere Naṣīḥa unser selbst Willen artikuliert wird oder für Gott. Ist sie konstruktiv oder eher destruktiv? Und dann sind noch die Rahmenbedingungen zu beachten; die Wortwahl, der situative Kontext und (!) der Geist mit dem man die Naṣīḥa äußert.

Vorbildhaftes Beispiel: Der Prophet Muhammad wollte seinem Gefährten Muʿādh ibn Jabal eine Gedenkformel raten, die er nach jedem Gebet rezitieren soll und fing diesen Ratschlag wie folgt an: „O Muʿādh, wahrlich ich liebe dich (…)“ und fuhr dann mit dem Ratschlag fort. Und gewiss war dieses Vorwort des Propheten nicht einfach nur eine Floskel, die er so dahinsagte, damit sein Gefährte auf ihn hört, vielmehr sprach er im Zustand der Wahrhaftigkeit, denn nicht umsonst war sein Spitzname aṣ Ṣadiqu al Amīn (=der Wahrhaftige bzw. Ehrliche und Vertrauenswürdige). Und dies trifft auf all seine Äußerungen zu. Möge Gott ihm Ṣalah und Frieden schenken.

Eine weitere sehr bekannte Anekdote ist die des Beduinen, der die Moschee des Propheten betrat, in ihre Mitte lief und dann zu urinieren begann! Die Gefährten – möge Gott mit ihnen allen zufrieden sein – reagierten, indem sie auf ihn zu rannten, um ihn zu stoppen – zumal es der Ort der Anbetung Gottes ist. Der Prophet stoppte sie aber bei ihrem Versuch und präsentierte einen höchst souveränen, gelassenen und liebevollen Umgang: Lasst ihn zu Ende urinieren, sonst erschreckt ihr ihn und verursacht einen Harnverhalt, war seine sinngemäße Anweisung. Er wartete bis der Mann sein Geschäft erledigt hatte, trat zu ihm und erklärte ihm einfühlsam, weshalb man nicht in der Moschee urinieren sollte.

Wahrscheinlich kennen viele von euch dieses Ereignis, aber habt ihr euch mal tief hineingedacht in diese Szene? Wie konnte der Prophet so gelassen reagieren? Setzte er tatsächlich die Gesundheit des Mannes über die Reinheit des Moscheebodens? Welche Liebe und Ruhe muss er inne gehabt haben, um die Situation so zu handhaben? Und wie hat sich wohl der Beduine gefühlt, als er erfuhr, dass der Prophet wartete bis er fertig war, um ihm zu erklären, dass die Muslime auf diesem Boden beten?

Alles was der Prophet von sich gab, gilt als religiöser Text – um den Kreis zu schließen – und auf diese Art und Weise verwendete er seine eigenen Worte. Nicht als Streitmittel, aber vielleicht als Geschenk?

Mit diesen Fragen wünschen wir euch einen gesegneten Freitag und hoffen, dass der Gedanke zum Freitag nützlich für euch war. Ein zweiter Teil folgt zu diesem Thema. So Gott will.