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"Wegsehen oder Aufstehen?"

Kaan Orhon
09.10.2015

Bismillah

Gedanke zum Freitag:
Heute von Kaan Orhon, RAMSA-Vizepräsident und Islamwissenschaftler aus Göttingen

Abu Said al-Khudri (r) überliefert, dass er den Gesandten Allahs (s) sagen hörte: "Wer von euch etwas Übles sieht, soll es mit eigener Hand ändern, und wenn er dies nicht vermag, so soll er es mit seiner Zunge verändern, und wenn er dies nicht kann, dann mit seinem Herzen, und dies ist die schwächste Form des Glaubens." (Muslim)

Islamfeinlichkeit/ antimuslimischer Rassismus sind fraglos keine Seltenheit in unserer Gesellschaft. Ich persönlich werde allerdings nur extrem selten davon berührt. Natürlich trifft und verletzt mich das, was von Manchen an Hass gegen Muslime als Kollektiv abgesondert wird, auch – doch als Individuum Leidtragender bin ich kaum.

Der Grund dafür ist ebenso simpel wie aussagekräftig: helle Haut und helle Haare. Allen hysterisch wiederholten Beteuerungen sogenannter Islamkritiker, man sei auf keinen Fall rechtsextrem oder rassistisch oder dergleichen, zum Trotz definiert in der Realität immer noch das Aussehen eines Menschen wie wahrscheinlich er im Alltag Opfer von „Islamkritik“ wird. Egal wie man persönlich eingestellt ist, ob liberal oder konservativ oder was es sonst noch für Etiketten gibt, als „europäisch“ aussehende Person (was auch immer das heißt, Europa ist erfreulicherweise recht vielfältig) ist ‚Mann’ sicher, die „Auseinandersetzung mit dem Islam als Ideologie“ bekommen im Zweifelsfall andere ab.

Anders liegt der Fall natürlich noch mal im Fall muslimischer Frauen mit Kopftuch, dieses relativiert „europäisches“ Aussehen mal mehr, mal weniger.

Um so mehr ist jeder Vorfall, bei dem man doch Opfer wird, Anlass, über vieles zu reflektieren. Angefangen, vor dem Hintergrund des oben Geschilderten, mit Privilegien von Hautfarbe und Geschlecht; aber da noch vieles mehr.

Macht es einen Unterschied, wenn der Urheber kein „Weißer“, Deutscher, Europäer ist? Das kommt darauf an, von welchem Blickwinkel man es betrachtet. Menschen die sich gegen Rassismus engagieren weisen immer wieder, gerade auch jüngst im Kontext brennender Flüchtlingsunterkünfte, darauf hin, dass Rassismus viel mehr ist als der pöbelnde, gewalttätige Neonazi. Das ist richtig, und für eine Gesellschaft wichtig zu thematisieren.

Doch auf der individuellen, persönlichen Ebene ist es bedeutungslos, die Bemerkung, der Angriff sind nicht weniger verletzend, das Gefühl, welches man davon zurück behält, nicht weniger abstoßend, wenn der Urheber „dunkler“ ist als man selbst oder selbst Angehöriger einer Minderheit.

Wichtig ist aber auch, wie man mit so etwas umgeht, wenn man nicht Opfer ist, sondern Zeuge, vermeintlich unbeteiligter Dritter. Ist man das Opfer, dann kann man nicht „wegsehen“, ist man aber nur zugegen, kann man wegsehen, sitzen bleiben und froh sein, dass man nicht betroffen ist. Ein Verhalten, dass ohne Zweifel falsch und beschämend ist, dessen man sich aber leicht schuldig macht. So war auch dass Teil meiner Gedanken – wenn ich einer der Anwesenden gewesen wäre, hätte ich in dem Moment aufbegehrt. Ich kann mich aus meinem Leben aus dem Stehgreif an drei Begebenheiten erinnern, in denen ich Zeuge einer menschenfeindlichen Bemerkung wurde und diese unwidersprochen ließ.

Ich sage mir selbst, dass ich heute älter, reifer, durch die islamische Arbeit sensibilisiert, mich anders verhalten würde, dass ich mehr tun würde als das Minimum, als das Unrecht im Herzen zu missbilligen. Dieses Minimum ist zwar für einen selbst noch besser als Gleichgültigkeit, aber dem Betroffenen bringt es nichts.

Komme ich wieder in eine solche Situation, muss ich mich an meinen Beteuerungen an mich selbst messen lassen. Wie jeder andere auch. Menschenfeindlichkeit jeder Couleur und die Abwertung von Menschen haben Hochkonjunktur und es braucht das aktive Einstehen für die eigenen Werte und Überzeugungen, wenn diese eine Bedeutung haben sollen.

Das ist schon nicht immer selbstverständlich, aber noch vergleichsweise leicht, wenn man eine „neutrale“ Position hat, also weder der tatsächlichen oder zugeschriebenen „Gruppe“ oder Identität des Angegriffenen noch der des Angreifers zugehört.

Um ein vielfaches schwerer noch ist es, zu widersprechen, dem Unrecht zu wehren im Sinne des Hadith, wenn im Kreis einer Gruppe eine solche Äußerung getätigt wird, der man sich zugehörig fühlt und deren Mitglieder vielleicht Einverständnis mit dem Gesagten voraussetzen. Steht unter diesen Umständen der Ansässige für den Flüchtling ein, der Pälästinenser für den Juden, der Kurde für den Türken, der Sunnit für den Alawiten oder der Ezide für den Muslim? Wiegt die Frage nach Recht und Unrecht, Richtig und Falsch – unabhängig vom eigenen religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund im Zweifelsfall schwerer als Zugehörigkeitsgefühl und mögliche negative Auswirkungen für einen selbst?

O die ihr glaubt, seid Wahrer der Gerechtigkeit, Zeugen für Allah, auch wenn es gegen euch selbst oder die Eltern und nächsten Verwandten sein sollte! Ob er (der Betreffende) reich oder arm ist, so steht Allah beiden näher. Darum folgt nicht der Neigung, daß ihr nicht gerecht handelt! ((an-Nisa:135))

In diesem Sinne wünscht euch der Vorstand des RAMSA einen gesegneten Freitag und ein schönes Wochenende.

 

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