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Vorahnung

Kaan Orhon
16.12.2016

Bismillah
Gedanke zum Freitag

Heute von: Kaan Orhon, Islamwissenschaftler aus Göttingen und Mitglied des Ältestenrates

Allah der Erhabene sagt in Seinem Buch in der sinngemäßen Übersetzung:

„Und als dein Herr zu den Engeln sprach: «Ich will einen Sachwalter auf Erden einsetzen», sagten sie: «Willst Du denn dort solche Wesen haben, die darauf Unfrieden stiften und Blut vergießen? – und wir loben und preisen Dich und rühmen Deine Heiligkeit.» Er antwortete: «Ich weiß, was ihr nicht wißt.»“ ((al-Baqarah:30))

Diese Tage hat das Schicksal der Menschen in Aleppo viele beschäftigt. Das Leiden und Sterben dort dauert schon lange, und es ist bei weitem nicht der einzige Ort, an dem derartiges gerade passiert. Doch es kam vielen von uns so nahe, verletzte uns, die wir nur aus weiter Entfernung Zeuge werden, so sehr, dass es wieder Menschen auf die Straße bringt, dass es wieder Energie freisetzt, sich dem Unrecht und der Unterdrückung wieder zumindest durch symbolische Akte und das Erheben der Stimme entgegen zu stellen.
Die Ereignisse, die wir in den letzten Tagen mitverfolgen konnten, regen zum Nachsinnen sicher auch über diesen obigen Vers nach. Wir Menschen in unserer Gesamtheit bestätigen scheinbar immer wieder aufs Neue die Warnung der Engel. Seit dem Morgen der Menschheit sind Gewalt und Blutvergießen ein Teil unseres Daseins. Nur die Form wandelt sich: anstatt, dads ein Mann einen anderen mit dem Schwert tötet, tötet er nun – vielleicht vom anderen Ende der Welt – Dutzende, Hunderte, Tausende durch einen einzigen Knopfdruck. Mehr Entwicklung haben wir scheinbar nicht zu Stande gebracht in den verstrichenen Jahrtausenden.

Keine Religion, keine Weltanschauung oder politisches System vermag uns zu ändern, so scheint es. Ich war gestern Abend auf einer Veranstaltung mit einer Reihe von Moscheegemeinden in Bonn. Einer der Anwesenden sprach, als das Thema Terrorismus aufkam, energisch davon, dass sich die Urheber terroristischer Anschläge niemals auf den Islam berufen können: der Islam lehre, wer einen Menschen töte, der habe gehandelt als habe er die ganze Menschheit getötet. Er hat Recht, das lehrt uns die Offenbarung, dieser Grundsatz findet sich in der einen oder anderen Form in allen großen Religionen – und doch ist unsere Welt wie sie ist. Genauso sind alle säkularen Ideologien, Philosophien und Gesellschaftskonzepte daran gescheitert, diesen Aspekt menschlicher Natur zu beseitigen.

Es ist in uns als Kollektiv, zu allen Zeiten, an allen Orten, in allen Kulturen und Gesellschaften. Nur wer sich selbst belügt, kann, wie wir es immer wieder erleben, die Position vertreten, Gewalt und Barbarei seien das Merkmal einer einzelnen Gruppe, etwa der Muslime oder von „Stammesgesellschaften“ in Afrika, nicht aber des aufgeklärten Europa. In Wahrheit haben alle Gesellschaften ihre Monumente der Menschenverachtung, der maßlosen Gewalt und des Hasses errichtet, und das nicht bloß in einer längst überwundenen Vergangenheit. Oradour-sur-Glane, Lidice und Katyn sind solche Monumente, Srebrenica und Grosny. Und wir errichten weitere in Aleppo und Singal, im Jemen, in Somalia, im Donbass, in Kolumbien.

Was also machen wir daraus und aus dem Vers am Anfang? Einfach akzeptieren, dass die Welt schlecht ist und uns um uns selbst kümmern? Sicher nicht. Es gibt wie in allem einen Mittelweg zwischen den Extremen: zwischen der unrealistischen Erwartung vollkommener Gerechtigkeit und ewigem Frieden auf der Welt auf der einen, und Resignation und Apathie auf der anderen Seite. Auch wenn das Blutvergießen ein menschlicher Zug sein mag, Krieg und Verbrechen sind keine Naturgewalten, gegen die man machtlos ist. Es gibt konkrete politische und sonstige Verantwortliche, die man zur Rechenschaft ziehen kann, es gibt Lehren, die man ziehen und im eigenen Leben umsetzen kann, um nicht selbst Teil dieses ewigen Kreislaufes von Gewalt und Gegengewalt zu werden. Dies ist unsere Verantwortung, unsere Prüfung, die uns unser Schöpfer mitgegeben hat. Die Sachwalterschaft auf Erden ist dem Menschen gegeben, allen Menschen, von Präsidenten und Königen bis zu Studenten und Schülern – jeder ist verantwortlich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu wirken, und das sollten wir uns zum Ziel setzen.

In diesem Sinne wünscht euch der RAMSA einen gesegneten Freitag und ein schönes Wochenende