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Unsere Menschlichkeit bewahren

Kaan Orhon
18.07.2014

Allah der Erhabene sagt in Seinem Buch in der ungefähren Übersetzung:

 „O die ihr glaubt, seid Wahrer (der Sache) Allahs als Zeugen für die Gerechtigkeit. Und der Haß, den ihr gegen (bestimmte) Leute hegt, soll euch ja nicht dazu bringen, daß ihr nicht gerecht handelt. Handelt gerecht. Das kommt der Gottesfurcht näher. Und fürchtet Allah. Gewiß, Allah ist kundig dessen, was ihr tut.“ ((al-Maida:8))

Es ist schwerer als man vielleicht glaubt, diese Mahnung unseres Schöpfers zu beherzigen, wenn wir die Bilder sehen, die uns Fernsehen und soziale Netzwerke unablässig aus Gaza bringen. Wir sind dem Geschehen scheinbar nah, aber doch so fern, dass uns ein Gefühl der Hilflosigkeit überkommt. Eine andere Hilflosigkeit als die der Menschen die verzweifelt versuchen, den Bomben zu entfliehen und doch nicht wissen wohin; aber dennoch eine Hilflosigkeit, die uns schmerzt und verzweifeln lassen kann. Diese Gefühle sind normal, sie sind nicht weniger als ein Ausdruck unserer Menschlichkeit, die uns dazu anhält, mit Unterdrückten und Flüchtlingen zu fühlen, um Verletzte und Sterbende zu trauern. Sie sind Ausdruck dafür, dass unser Glaube in uns lebendig ist und wir uns mit Menschen, die weit von uns entfernt sind, verbunden fühlen als wären sie ein Teil von uns. Das ist Teil des innersten Wesens unserer Religion.

“Gewöhnlich findest du die Gläubigen in ihrer Barmherzigkeit, Zuneigung und Mitleid zueinander wie der Körper: Wenn ein Teil davon leidet, reagiert der ganze Körper mit Schlaflosigkeit und Fieber!”  (Muslim)

Doch Hilflosigkeit und Trauer stauen sich in uns auf und steigern sich zu Wut, zu Hass. Viele empfinden denn Drang, sich von diesen Gefühlen zu befreien, dadurch dass sie etwas tun – demonstrieren und sich die Wut und die Fassungslosigkeit über die ausbleibende Hilfe für die Opfer herausschreien, wo man nur Schweigen vernimmt. Andere spenden oder versuchen, durch kleine Gesten Solidarität zu bekunden, auf der Straße oder virtuell.

Es gibt aber auch etliche, zu viele, die um sich schlagen, wo kein Feind ist – gerade soziale Netzwerke bieten dazu Raum. Anonymität und eine ohnehin missgebildete Kultur der Kommunikation und des Umganges miteinander bilden einen fruchtbaren Boden für schädliche Taten und Aussagen – schädlich für die Opfer, für die Muslime, für die Gesellschaft und nicht zuletzt für uns selbst.  Wer sich die Beiträge ansieht, die viele Menschen ins Internet stellen, der findet zu Hauf kollektive Beschuldigung, falsche Aussagen und widerwärtigste Ausdrücke – generell aber ganz besonders in diesen Tagen des Fastens eine schändliche Handlungsweise, die uns selbst vieles kosten kann.

„Wer die üble Rede und Handlung nicht unterläßt, von dem verlangt Allah nicht, dass er auf sein Essen und Trinken verzichtet.“ (Bukhary)

Manch einer mag nun den Kopf schütteln, wenn das Denken und Schreiben über die humanitäre Katastrophe in Gaza mit Ermahnungen an jene beginnt, die den Opfern helfen wollen, statt mit einer Anklage an die Täter oder vermeintlich schweigende Dritte, die das Unrecht gewähren lassen.

Aber es ist in der Tat immer die eigene Person, die eigene Gemeinschaft, an die wir zuerst die Mahnung, den Ratschlag und wo nötig auch die Kritik richten müssen. Nicht um Menschen, die helfen wollen, die Hilfe auszureden – im Gegenteil. Um die Hilfe erfolgreicher zu machen müssen wir auf den Weg des Nachdenkens und Reflektierens zurückfinden, wo uns verständliche Emotion übermannt hat, müssen wir dem Einhalt gebieten, was nur scheinbar hilft und in Wahrheit schadet, müssen da einschreiten, wo aus Trauer und Wut Unrecht erwächst.

„Der Gesandter Allahs (s) sagte: ‚Hilf deinem Bruder, wenn er Unrecht tut oder wenn ihm Unrecht getan wird.‘ (Die Gefährten) fragten: ‚Wir helfen ihm, wenn ihm Unrecht getan wird, aber wie sollen wir ihm helfen, wenn er Unrecht tut?‘ Er antwortete: ‚Haltet seine Hand zurück (und hindert ihn so, Unrecht zu tun).‘“ (Anas; Bukhary)

Der erste Kampf, den wir führen müssen und der wichtigste, ist gegen die niederen Regungen in uns, auch uns gerade, wenn es schwierig ist, weil sie sich in dem Kleid wertvoller und edler Eigenschaften wie Mitgefühl oder dem Wunsch nach Gerechtigkeit verbergen.

Darum: was immer wir tun, welchen Weg der Aktion wir wählen, wir müssen darauf achten, dass die Absicht rein und die Handlungen gut sind. In Wort, Schrift oder Tat, zu Hause, im Internet oder auf der Straße – wer durch Gewalt oder durch schändliche Rede sich selbst und der Sache schadet, der muss beraten und zur Not davon abgehalten werden.

Und ein weiterer Aspekt ist zu beachten: wenn wir etwas fordern, sollten wir auch immer einen kritischen Blick auf uns zurück werfen, ob wir unseren eigenen Forderungen gerecht werden könnten.
Wenn wir beklagen, dass in der Wahrnehmung des Konfliktes die Menschen, die Opfer nicht gleichwertig sind, sondern israelische Opfer einen ungleich höheren Stellenwert erhalten als die unvergleichlich zahlreicheren palästinensischen, müssen wir uns fragen, ob wir uns nicht längst auch eine mediengestützte Klassengesellschaft von Opfern konstruiert haben, in der verschiedene Menschen verschieden viel wert sind; in der Afrikaner und Asiaten weit unter den medial präsenteren Opfern im Nahen Osten stehen, weil es keine Fernsehberichte, keine YouTube-Videos und Facebook-Bilder gibt.

Als wir letzte Woche an die Toten von Srebrenica erinnerten, fragte der erste Kommentar: „Warum steht hier nichts über Gaza?“ Fragen wir unter Bildern aus Gaza auch: „Warum steht hier nichts über Somalia?“ Es gibt keine Profilbild-Kampagnen für die Zentralafrikanische Republik oder Darfur, keine Demonstrationszüge durch deutsche Städte für Uiguren oder die Menschen in Kaschmir.
Und tragen wir diesen Gedanken noch weiter – viele fragen voll Wut und Unverständnis warum deutsche Politik, internationale Organisationen von EU bis UN, diese oder jene Medien und Teile der Gesellschaft das Morden scheinbar widerspruchs- und emotionslos hinnehmen. Tatsächlich sind Muslime auf Demonstrationen für Palästina kaum jemals unter sich, verschiedenste Menschen, linke, friedensbewegte, andere sind fast immer mit vertreten. Prominente, Parlamentarier und andere bekunden Solidarität. Ja, es könnte, es müsste noch weitaus mehr sein. Ja, mit Presseerklärungen und Schilder hochhalten wird keine Rakete aufgehalten – von ihnen ebenso wenig wie von uns. Aber die Frage die wir uns irgendwann einmal stellen sollten ist - können wir der Gegenbetrachtung standhalten? Leisten die Regierungen muslimischer Länder, muslimische Organisationen, Medien das, was wir für Gaza fordern, für nichtmuslimische Opfer? Leisten sie es überhaupt für Gaza? Ein solcher Blick in den Spiegel mag bei manch einem Widerwillen erzeugen, aber er ist wichtig. Die Gerechtigkeit verlangt es.

All das gesagt, ist die Notwendigkeit, den Menschen in Gaza zu helfen, ungemindert. Es muss noch einmal wiederholt werden, die kritische Betrachtung der eigenen Person, der eigenen Taten und Aussagen soll und darf nicht vom Helfen abhalten, sondern fördert es. Unser Verhalten auf Demonstrationen beachten, heißt nicht, nicht zu demonstrieren. Nicht unflätig, verletztend oder verallgemeinernd zu sprechen, heißt nicht schweigen. Die Akzeptanz von Unrecht ist niemals eine Option.

„Allahs Gesandter hat gesagt: “Wer von euch ein Übel sieht, der soll es mit (der Kraft) seiner Hand ändern, und wenn er das nicht vermag, dann mit (den Worten) seiner Zunge, und wenn er (auch) das nicht vermag, dann mit (dem Wunsch) seines Herzens, und dies ist das Schwächste an Glauben.” (Abu Said al-Chudri; Muslim)

Demonstriert! Sprecht, schreibt, informiert! Gerade in diesen Tagen und Nächten: spendet und ermüdet nicht im Bittgebet! Für Gaza, und für andere auch. Organisiert Mahnwachen, verrichtet das Totengebet, schickt Briefe, malt Plakate…die Taten sind gemäß der Absicht und Allah der Erhabene ist aller Dinge mächtig.

Der erste Schritt zur Hilfe für andere wie für die Verbesserung unseres selbst ist das Gottvertrauen, wenn wir Trost in Allah finden, überwinden wir den eigenen Kummer, den Zorn und den Hass und stärken uns selbst für die Hilfeleistung.

Möge Allah uns zu Zeugen für Gerechtigkeit machen! Möge Er uns in der Zeit der Verzweiflung beistehen, möge Er Schutz der Verfolgten sein, der Befreier der Unterdrückten und der Richter der Unterdrücker. Möge Er uns in unseren Werken beistehen, damit wir uns am Tage der Abrechnung unserer Taten und Worte nicht zu schämen brauchen. Amin
In diesem Sinne wünscht euch der Vorstand des RAMSA einen gesegneten Freitag und ein schönes Wochenende.