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Kaan Orhon
30.05.2014

"Es geht nicht um Gewalt an muslimischen Frauen oder hinduistischen Frauen oder christlichen oder nichtgläubigen, sondern um alle Frauen."

Bismillah

Allah der Erhabene sagt in Seinem Buch in der ungefähren Übersetzung:

„Gewiß, muslimische Männer und muslimische Frauen, gläubige Männer und gläubige Frauen, ergebene Männer und ergebene Frauen, wahrhaftige Männer und wahrhaftige Frauen, standhafte Männer und standhafte Frauen, demütige Männer und demütige Frauen, Almosen gebende Männer und Almosen gebende Frauen, fastende Männer und fastende Frauen, Männer, die ihre Scham hüten und Frauen, die (ihre Scham) hüten, und Allahs viel gedenkende Männer und gedenkende Frauen – für (all) sie hat Allah Vergebung und großartigen Lohn bereitet.“ ((al-Ahzab:35))

Zwei Länder, zwei Verbrechen. In den letzten Tagen wurde in Indien und Pakistan drei Frauen ermordet. Im pakistanischen Lahore wurde eine junge Frau vor einem Gerichtsgebäude von einem rasenden Mob zu Tode gesteinigt. Die Mörder waren ihre Familienangehörigen, ihr „Verbrechen“ war, dass sie geheiratet hatte. Einen Mann, den sie liebte, nicht den, den ihre Familie für sie bestimmt hatte. In einem indischen Dorf wurden zwei Mädchen, 14 und 16 Jahre alt, von einer ganzen Gruppe Männer vergewaltigt und später an einem Baum erhängt. Wahrscheinliches Motiv war eine soziale Machtdemonstration, da die Mädchen einer niederen Kaste angehörten.

Die Verbrechen stehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang, dennoch ist es wichtig, sie in einem Kontext zu betrachten und genauso die Reaktionen darauf. Es zeigt die Vielschichtigkeit von Unrecht, dessen Opfer Menschen als Individuum und als Gruppe werden, und lehrt jene, die sich für eine gerechtere Welt einsetzen wollen – und das sollten wir alle sein – dass sie diese Vielschichtigkeit wahrnehmen und entsprechend handeln müssen, wenn sie helfen wollen. Wer – gelenkt durch seine persönliche Sichtweise – nur eine Ebene wahrnimmt, kann nur schwer nachhaltig etwas verändern.

Im vorliegenden Kontext zeigt sich dies darin, dass die in Deutschland und leider nicht nur hier erfolgreiche Islamkritikindustrie einen der Fälle sogleich adoptiert und für sich instrumentalisiert hat. Seit langem ist der Diskurs um Frauenrechte für sie eine Waffe geworden, die sich auf Menschen muslimischen Glaubens richten lässt. Die Frauen, die Opfer von Verbrechen werden, sind als Individuen dabei völlig bedeutungslose Objekte, die politischen und gesellschaftlichen Kettenhunde der Islamkritik haben zu keinem Zeitpunkt die Absicht, ihnen zu helfen. Im Gegenteil, würde eine Überlebende eines solchen „Ehrverbrechens“ nach Deutschland kommen und ein „Verbrechen“ begehen wie mit Kopftuch an einer Schule unterrichten zu wollen oder sich für einen Moscheebau einzusetzen, die vermeintlichen Vorkämpfer des Feminismus würden mit aller Gewalt versuchen, sie wieder zum Opfer zu machen, durch Diskriminierung, Ausgrenzung… und vielleicht würde sie sogar am Ende wieder zum Opfer physischer Gewalt, so wie die Dresdenerin Marwa El-Sherbini, die von einem Mann, der sich die Ideologie der Islamkritiker zu eigen gemacht hatte, in einem deutschen Gericht gemeinsam mit ihrem ungeborenen Kind ermordet wurde. Sie hatte durch ihr Leben und ihre Weigerung, sich verbal zum Opfer machen zu lassen, nicht eine konstruierte archaische Familienehre beschmutzt, sondern die eingebildete Überlegenheit ihres Mörders bloßgestellt. Das Resultat war dasselbe.

Aber zu dieser Dynamik gibt es auch eine Gegenseite. Die Kritik an Rassismus, an Anti-Muslimischer Stimmungsmache lässt sich auch als Feigenblatt verwenden, als Ablenkung von der Tatsache, dass vieles entsetzlich falsch ist - natürlich nicht nur aber auch - in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften was die Situation von Frauen und Mädchen angeht. Das in verschiedenen muslimischen Ländern Gesetzestexte existieren oder es noch bis vor kurzem taten, die Mördern von Frauen durch kulturelle Rechtfertigungen die Möglichkeit geben, Strafminderung zu erlangen, ist kein Gegenstand der Interpretation oder Diskussion; es zu thematisieren ist eine moralische Notwendigkeit, und dies ist bedauerlicherweise nur ein Thema von vielen.

Dennoch ist zu oft keine Bereitschaft dazu vorhanden oder sie endet mit der Feststellung, das habe nichts mit dem Islam zu tun und komme anderswo auch vor. So wahr diese Feststellungen sind, so wenig hilfreich sind sie auch. Dass Diskriminierung von und Gewalt gegen Frauen keine spezifischen Probleme muslimischer Länder oder auch nur von Entwicklungsländern sind, ist allen bewusst, auch denen, die öffentlich genau das behaupten. Es ist globales Problem und ein extremes.

Wenn es aber konkret um einen Sachverhalt in einem muslimischen Kontext geht, und es findet eben auch in diesen statt, schadet es den Opfern noch weiter, durch eine derartige, defensive Reaktion eine Ablenkungsdiskussion zu eröffnen, die nicht mehr das Opfer in den Mittelpunkt stellt. Das hin und her schieben von Verantwortung a la „es passiert auch woanders, bei den anderen ist es noch schlimmer“, verhindert echte Hilfe und macht jene, die sich darin verwickeln, zu unwilligen Helfern des Unrechts. Es geht nicht um Gewalt an muslimischen Frauen oder hinduistischen Frauen oder christlichen oder nichtgläubigen, sondern um alle Frauen.

Die Identität eines Menschen setzt sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammen, mit verschiedenen anderen Menschen verbinden uns verschiedene Elemente unserer Identität. Zwei Muslime verbindet ihr gemeinsamer Glaube, zwei Frauen auch unterschiedlicher Religionszugehörigkeit oder Herkunft verbinden Erfahrungen, die in unserer Gesellschaft Frauen machen, Männer aber nicht. Der Versuch, Unrecht, das eine Facette unserer Identität betrifft, zu beseitigen, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen, ist verfehlt, das gilt für Rassismus ebenso wie für Misogynie. Ebenso verfehlt sind Diskurse, die nicht das oder die Opfer in den Mittelpunkt stellen oder ihm/ ihr die Möglichkeit geben, für sich selbst zu sprechen.

Ein muslimischer Mann kann über seine Diskriminierungserfahrungen aufgrund seiner Religion sprechen, aber nicht per se über die einer muslimischen Frau. Das ist insbesondere insofern problematisch, als der gesellschaftliche Diskurs über „Frauen im Islam“ auf der muslimischen Seite noch immer überwältigend von männlichen Vertretern geführt wird, auch wenn Verbesserung sichtbar ist.

Jeder ist berufen, Unrecht im Rahmen seiner Möglichkeiten zu bekämpfen. Angefangen im eigenen Lebensumfeld und von dort aus weiter, hin zu gesellschaftlicher Veränderung. Dabei darf die Beseitigung einer Diskriminierung nicht eine andere verstärken: Schutz vor religiöser Diskriminierung kann nicht auf Kosten des Schutzes vor Diskriminierung als Frau gehen und umgekehrt. Gerechtigkeit ist wie Freiheit unteilbar, entweder wird sind in allen Bereichen unserer Identität sicher vor Unrecht, oder wir sind es überhaupt nicht.

Wenn wir uns aufgrund unserer eigenen Befindlichkeiten weigern, Unrecht zu beenden oder überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, machen wir uns mitschuldig und werden dafür Rechenschaft ablegen müssen.

Möge Allah der Erhabene uns zu Zeugen für Gerechtigkeit machen in allen Dingen, möge Er uns vor Unrecht schützen, davor es zu erleiden und davor, es auszuüben.

In diesem Sinne wünscht euch der Vorstand des RAMSA einen gesegneten Freitag und ein schönes Wochenende.