Sie sind hier

Das Übel ändern

Kaan Orhon
23.05.2014

Der Gesandte Allahs –Segen und Frieden auf ihm – sagte:

Abu Said al-Khudri (r) überliefert, dass er den Gesandten Allahs (s) sagen hörte: "Wer von euch etwas Übles sieht, soll es mit eigener Hand ändern, und wenn er dies nicht vermag, so soll er es mit seiner Zunge verändern, und wenn er dies nicht kann, dann mit seinem Herzen, und dies ist die schwächste Form des Glaubens." (Muslim)

Im Vorfeld der Wahlen zum europäischen Parlament an diesem Sonntag ist viel darüber berichtet worden, welchen Aufschwung generell Fremden- und speziell Islamfeindliche Parteien momentan erleben. Deutschland steht dabei noch verhältnismäßig gut dar; in einigen Ländern, etwa den Niederlanden oder Frankreich spekulieren Parteien, die mit Hetze gegen den Islam und Muslime Wahlkampf betreiben, darauf, dass bis zu einer von fünf wahlberechtigten europäischen Bürgern ihnen ihre Stimme geben. Muslime sind in Teilen des politischen und gesellschaftlichen Diskurses zur akzeptierten Projektionsfläche für die Probleme Europas gemacht worden, und wir als europäische Muslime erleben in unserem Alltagsleben immer wieder die Auswirkungen dieser politischen Unkultur.

Das Übel ist identifiziert, der nächste Schritt ist das ändern – aber wie?

Unmittelbar erscheint eine mögliche Handlungsweise naheliegend (für diejenigen, die dazu berechtigt sind): bei der Wahl am Sonntag die Stimme jemandem geben, der den geschilderten Tendenzen entgegen tritt oder zumindest die Beteiligung an dieser Art Wahlkampf und Politik verweigert. Aber zum einen ist es einem nicht unerheblichen Teil der Muslime in den EU- Staaten aufgrund der Staatsangehörigkeit verwehrt, am Sonntag ein Kreuz auf dem Wahlzettel hinterlassen.

Und zum anderen ist es zulässig zu fragen, wie viel Gutes sich mit der Stimmabgabe tatsächlich bewirken lässt. Dabei geht es nicht um die unsägliche Debatte, ob wählen oder generell politische Partizipation eine Sünde und die Demokratie eine Religion sei. Diese hat sich nicht zuletzt durch die Wahlerfolge muslimisch geprägter Parteien und Politiker in mehrheitlich muslimischen Ländern, aber auch in verschiedenen Staaten der EU weitestgehend überlebt und die Vertreter dieser Weltsicht verschwinden zu Recht in der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit.

Die Frage ist vielmehr, ob sich das politische System generell im Falle der EU in eine Richtung entwickelt hat, die wirkliche und nachhaltige Veränderung erschwert oder sogar unmöglich macht, auch wenn einzelne Beteiligte am politischen Prozess ausgetauscht werden? Ob sich die dominanten Parteien und Kandidaten so sehr angeglichen haben, dass letztlich nicht viel mehr möglich ist, als die Entscheidung für das geringste Übel? Menschen, die so denken, und sich basierend darauf entscheiden, nicht zur Wahl zu gehen, wird manchmal negativ bis aggressiv begegnet. „Wer nicht wählt, wählt rechts!“ „Sei froh, dass du in einem Land leben kannst, wo du wählen darfst, in anderen Ländern geht das nicht!“ Solcherlei Sätze bekommt man gerne mal entgegen geschleudert.

In wie weit ist dies berechtigt? Es gilt als ungeschriebenes politisches Gesetz, das Extremisten jeder Couleur ihre Anhänger in der Regel effektiver mobilisieren, als Parteien oder Personen, die die politische Mitte repräsentieren und somit von geringer Wahlbeteiligung am stärksten profitieren.

Und es stimmt, dass in vielen wenn nicht den meisten Ländern der Welt den Menschen das Recht verwehrt wird, zu entscheiden, wem sie die Führungspositionen in Staat und Gesellschaft anvertrauen wollen – stattdessen nehmen Gruppen oder Einzelpersonen sich Macht und Herrschaft durch Gewalt. Wenn in Ländern wie Afghanistan oder dem Irak Menschen zu Wahlen gehen, obwohl sie buchstäblich ihr Leben riskieren müssen, weil Einzelne sich herausnehmen, Menschen zu töten, um Wahlen zu verhindern, dann ist der Grund nicht, dass sie glauben, durch eine Wahl würden alle Probleme gelöst oder die Kandidaten wären alle grundanständig. Die Stimme abzugeben, ist ein Akt der Selbstbestimmung eines mündigen Menschen, ein Weg, sich ein Minimum an Freiheit zu nehmen und gegen Gewalt, Willkür und Unrecht zu behaupten. Aber eben aus dieser Freiheit und Selbstbestimmung erwächst auch das Recht, sich Prozessen und Institutionen zu verweigern, wenn man von ihnen nicht überzeugt ist. Wenn man sich von keinem Kandidaten, keiner politischen Kraft vertreten fühlt, gibt es keine Verpflichtung, dem System durch eine Verlegenheitswahl die Absolution zu erteilen. Wobei es unter Umständen in diesem Fall immer noch besser wäre, den Stimmzettel als Akt des Protestes ungültig zu machen, als gar nicht hinzugehen.

Aber, um die Betrachtung zum Geiste der Prophetenüberlieferung zu Anfang zurückzuführen – Wahl oder nicht Wahl, kein Individuum kann sich islamisch gesehen von der Verantwortung für das eigene Leben und die Gesellschaft, in der er oder sie lebt, lösen. Ob wir in regelmäßigen Abständen einem politischen Repräsentanten, dem wir vertrauen, durch unsere Stimmabgabe politische Verantwortung für einen bestimmten Bereich übertragen, oder nicht, spielt für unsere Verantwortung vor unserem Schöpfer keine Rolle. Wenn wir über unsere Taten Rechenschaft ablegen, wird es keine Möglichkeit geben, eigene Untätigkeit mit dem Verweis auf einen Vertreter „über uns“ zu rechtfertigen. Ob wir Sonntag wählen oder nicht, das Übel und das Unrecht, dem wir am Montag begegnen, ist noch immer unsere Verantwortung und der Befehl von Allahs Gesandtem noch immer verpflichtend.

Welche Art konkret das Ändern des Übels annimmt, ist stets unterschiedlich, und es gehört mit zur Verantwortung des oder der Einzelnen, neue Wege zu finden und bestehende Formen der Aktivität zu verbessern. Wer kein Vertrauen in das politische System setzt, ist berufen, persönlich alternative Wege der gesellschaftlichen Veränderung aufzuzeigen und diese auch zu beschreiten als Beispiel für andere. Wer sich politisch beteiligt muss wissen, dass dies nur eine Facette des Handelns ist und durch das Wirken im eigenen Lebensumfeld ergänzt werden muss. Ganz besonders die Studierenden und Akademiker sind berufen, Wege zu finden, die Gesellschaft zu verbessern; dürfen nicht klagen oder kritisieren als Selbstzweck sondern müssen aufzeigen, wie Probleme gelöst und Unrecht behoben werden können. Wenn ein Weg nicht zu Veränderung führt, müssen wir versuchen zu verbessern oder durch eine bessere Alternative ablösen. Wir müssen keine Komplettlösungen anbieten, sondern zunächst einmal nur nachdenken und Ansätze entwickeln; den Verstand benutzen mit dem unser Schöpfer uns ausgezeichnet hat. In unserem eigenen unmittelbaren Lebensumfeld können wir anfangen und von dort versuchen, weiter in die Gesellschaft auszustrahlen. Was sind die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, wie sind sie zu lösen, und in wie weit können wir selbst konstruktiv und effektiv an ihrer Beseitigung mitwirken, anstatt die Verantwortung an eine andere Instanz weiter zu geben.

Das Allah der Erhabene allein letztlich über den Erfolg einer Sache entscheidet, ist keine Befreiung von der Verantwortung zum Handeln sondern im Gegenteil die Verpflichtung dazu.

Möge Allah, der Weise, der Kundige, uns die Weisheit geben, in dem was wir tun die richtige Entscheidung zu treffen und die Kraft, sie in die Tat umzusetzen.

In diesem Sinne wünscht euch der Vorstand des RAMSA einen gesegneten Freitag und ein schönes Wochenende.

Foto: Quelle: flickr, Nutzer: "DVIDSHUB", Lizenz: Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)