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Aufbegehren

Kaan Orhon
02.06.2017

Bismillah
„Aufbegehren“ – Gedanke zum Freitag

Der Gesandte Allahs – Segen und Frieden auf ihm -  sagte:

“Wer von euch etwas Schlechtes sieht, der soll es mit (der Kraft) seiner Hand ändern, und wenn er das nicht vermag, dann mit (den Worten) seiner Zunge, und wenn er (auch) das nicht vermag, dann mit (dem Wunsch) seines Herzens, und dies ist das Schwächste an Glauben.” (Abu Said al-Chudri; Muslim)

Der Ramadan ist eine schöne Gelegenheit für spirituelle Erbauung und Erneuerung. Dennoch handelt dieser Text wieder von etwas sehr Weltlichem und alles andere als Erbaulichem.
Von Verbrechen, von Menschen, die in diesen Tagen, die freudige und gesegnete sein sollten, ermordet wurden und von der Verantwortung derer, die zurückbleiben und Zeugen sind.

Ich habe Verständnis für jeden, der schon jetzt beim Lesen der ersten Zeilen denkt:
„Kann er uns nicht zumindest in dieser Zeit damit verschonen?“
Trotzdem lautet meine Antwort ‚Nein‘. Das kann ich nicht.

Es ist mein Versuch, in Anerkennung der Begrenztheit meiner menschlichen Möglichkeiten, den Auftrag, den unser Geliebter, der Gesandte Allahs – Segen und Frieden auf ihm – uns gegeben hat, zu erfüllen.

Mord ist Mord, kein Leben ist mehr oder weniger wert als das andere, darf es niemals sein. Doch ist mein Fokus hier und heute ein bestimmter, nicht Manchester, wie vielleicht manch einer denkt – und auch dazu wäre viel zu sagen und zu schreiben – sondern Bagdad, wo Familien mit Kindern das Fastenbrechen in einer Eisdiele feiern wollten, und nun in Kabul. Verbrechen, die in die ersten Tage des gesegneten Monats Ramadan gefallen sind und die mich in den letzten Tagen und Nächten nicht losgelassen haben.

Der Ramadan ist der Monat des Qur´an, des Fastens, der nächtlichen Anbetung und des Almosens. Der Ramadan ist genauso der Monat der Einkehr, der kritischen (Selbst-)Reflexion, des Überwindens von Schwächen, schlechten Gewohnheiten und festgefahrenen Verhaltensmustern.

Hätte uns ein neues Aufflammen des Konfliktes in Gaza in den ersten Tagen des Ramadan, mit weit über 100 Toten und Hunderten von Verletzten, darunter so viele Kinder, in Wut und Trauer auf die Straßen getrieben? Beantworten wir diese Frage ehrlich, niemand anderem, sondern nur für uns selbst. Wenn die Antwort ja lautet, und bei Bagdad und Kabul nein, dann ist das ein schweres Unrecht, dessen Überwindung in uns selbst eine sinnvolle und gesegnete Aufgabe für diesen Ramadan  wäre.

Wann immer wir in der jüngeren Vergangenheit hier unsere Anteilnahme ausdrückten nach Akten des Terrors in Paris, Brüssel, Nizza, Berlin und anderswo standen die üblichen Verdächtigen bereit mit den immer gleichen Reaktionen: Anbiederung an die Mehrheitsgesellschaft, Ignorieren muslimischer Opfer und mein besonderer Favorit: „Spaltung der Muslime“. Läge der Schwerpunkt dieses Textes auf Manchester, sie wären wieder zur Stelle, daran zweifele ich keinen Moment.

Nun, es ist eine verabscheuungswürdige Tradition geworden, dass der Ramadan die Zeit ist für Massaker auch aber natürlich nicht nur an Muslimen durch selbsternannte Vorkämpfer des Islam. Vor zwei Jahren starben über 400 Menschen allein an einem Freitag im Ramadan in Syrien, Tunesien, Somalia und Kuwait. Darunter waren 27 Menschen, die beim Gebet in einer Moschee in ermordet wurden; über 220 Menschen wurden in Kobane in ihren Häusern massakriert. Im letzten Jahr war es der Flughafen in Istanbul mit über 40 Toten, der Massenmord an fast 300 Menschen in Bagdad und an vier Polizisten an der Moschee des Propheten (s) in Medina.

Natürlich sind solche Akte auch außerhalb des Ramadan Alltag geworden. Aber in der Ideologie der Mörder ist eine Steigerung dieses Tuns im Monat Ramadan das erklärte Ziel. Für jene, die gehüllt in ein islamisches Gewand, den Tod als ihren Götzen anbeten, ist das ein Teil ihres Gottesdienstes im Ramadan. Sie schreiben vom Gesandten Allahs – Segen und Frieden auf ihm – in ihren Publikationen als „the prophet of mercy and massacre“, der Prophet des Barmherzigkeit (mit den nach ihrer Definition gläubigen) und des Massakers (an allen anderen). So gewaltig wie das Ausmaß dieser Unmenschlichkeit sollte auch der Aufschrei dagegen sein. Und doch scheint es manchmal, als ob die zum 39. Mal gestellte Frage „Was, auch kein Wasser, ist das nicht ungesund?“ die stärkere emotionale Reaktion auslöst.

Das ist auch damit nicht zu erklären, dass dieses Übel ein weit entferntes wäre, dass einen weniger konfrontiert als andere. In diesen Tagen habe ich bei Gesprächen nach dem Iftar und Moscheebesuch mit alten und neuen Bekannten wieder Zeugnisse von Menschen gehört, die jemanden kannten, die einen mehr, die anderen weniger eng, der in das Dunkel dieses Übels gefallen ist, der sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hat und nun mit seinen Ansichten Ekel und Schrecken auslöst und Angst, das er auch zu solchen Taten fähig sein könnte.

Die Verbreiter der Ideologie, die dahinter steht, sind keine geisterhaften Gestalten, vielfach sind sie nur allzu präsent, medial oder sogar physisch. Möglichkeiten und Wege, gegen sie und ihr menschenverachtendes Denken vorzugehen, gibt es viele. Es ist die Verantwortung eines jeden Einzelnen, in diesem Ramadan und darüber hinaus, seine oder ihre zu wählen.

In diesem Sinne wünscht euch der RAMSA einen gesegneten Freitag, ein schönes Wochenende und weiter einen gesegneten Ramadan.

Heute von: Kaan Orhon, Islamwissenschaftler aus Göttingen und Mitglied des Ältestenrates.